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Die Kautschuk-Blase in Brasilien

Für den Bau des Teatro Amazonas scheuen die Gummi-Barone von Manaus keine Kosten.

Die goldene Kuppel des Teatro Amazonas erstrahlt in der Abendsonne: Mitten im Dschungel feiern die Schönen und Reichen von Manaus, trotz der Hitze in Pelz gehüllt, an Silvester 1896 die Eröffnung des Opernhauses.

Der Marmor für die Treppen und Säulen stammt aus Carrara. An den Decken hängen Lüster und Kronleuchter aus Murano-Glas, Möbel und Stoffe sind aus Paris.

Ein klebriges, stinkendes Naturprodukt ermöglicht den Luxus: Kautschuk. Der Boom macht aus dem verschlafenen Nest eine Weltmetropole. Doch das extravagante Leben ist von kurzer Dauer.

1. Brasilianisches Monopol

Kautschuk fristet lange Zeit ein Schattendasein. Zwar wird auch in Europa mit dem Material experimentiert. So nutzt etwa der Schotte Charles Macintosh die wasserabweisenden Eigenschaften von Kautschuk und bringt 1824 den ersten Regenmantel auf den Markt. Die Marke wird noch heute in Grossbritannien verkauft. Doch das Material weist einige gravierende Mängel auf, die Käufer abschrecken: Bei Hitze klebt es und beginnt zu stinken, bei Kälte wird es steif und brüchig.

Das ändert sich 1839. Der Amerikaner Charles Goodyear entdeckt das Verfahren der Vulkanisation, durch das Kautschuk in elastisches und temperaturbeständiges Gummi umgewandelt wird. Gleichzeitig gewinnt die industrielle Revolution in Europa an Fahrt – die Industrie entdeckt das enorme Potenzial von Kautschuk.

Das Zusammenspiel dieser Entwicklungen ist ein Glücksfall für das seit 1822 unabhängige Kaiserreich Brasilien. Der begehrte Rohstoff, gewonnen aus Latex, dem Milchsaft des Kautschukbaums (Hevea brasiliensis), findet sich einzig im Regenwald des Amazonasbeckens. Mitten im Dschungel liegt strategisch günstig das Örtchen Manaus. Rund 1700 Kilometer sind es dem Amazonas entlang bis an den Atlantischen Ozean. Von Manaus wird der Rohstoff auf dem Flussweg in die ganze Welt exportiert. Innerhalb kürzester Zeit entwickelt sich das Provinznest zur kosmopolitischen Metropole mit internationalem Flair.

2. Boom-Town Manaus

Brasilien kontrolliert den Kautschukmarkt für rund fünfzig Jahre. 1885 werden 13 000 Tonnen des Rohstoffs aus dem Amazonasbecken exportiert. 1910, als die Preise ihren Höhepunkt erreichen, sind es rund 40 000 Tonnen. Während dieser Zeit deckt Brasilien 60 bis 90% des globalen Bedarfs ab. Bolivien, Peru und Venezuela mischen ebenfalls im Kautschukgeschäft mit.

Dank der Einnahmen aus dem Boom ist Manaus bald die vermögendste und modernste Stadt des Kontinents, die es problemlos mit den Grossstädten in Europa aufnehmen kann. Es gibt Elektrizität und fliessendes Wasser. In den Strassen fährt die erste elektrische Strassenbahn Lateinamerikas. Prunkvolle Bauten säumen die Alleen. Die Krönung ist das Opernhaus – das Teatro Amazonas –, das am 31. Dezember 1896 eingeweiht wird. Angeblich soll der italienische Startenor Enrico Caruso für einen Auftritt gewonnen werden. Aus Angst vor Malaria setzt er aber keinen Fuss nach Manaus.

Der Glanz der Stadt strahlt bis weit über die Landesgrenzen. Die Bevölkerung schwillt von 5000 (1865) auf 50 000 (1910) an. Der Wohlstand lockt Abenteurer aus aller Welt in den Dschungel, vor allem Portugiesen, Spanier und Engländer. Sie arbeiten entweder in der Kautschukindustrie oder gehen in der pulsierenden Stadt anderen Geschäften nach. Das Pro-Kopf-Einkommen im Amazonasgebiet klettert innerhalb von fünfzig Jahren 800%. In Manaus werden mehr Diamanten verkauft als irgendwo sonst auf der Welt.

«Keine Extravaganz war zu absurd», beschreibt der Historiker Robin Furneaux die Zustände in der Dschungelstadt. «Kaufte sich ein Gummi-Baron eine Jacht, legte sich der nächste einen Löwen zu, und der dritte tränkte seine Pferde mit Champagner.» Was die Gummi-Barone nicht ahnen: Ihre Tage sind gezählt, denn auf einem anderen Kontinent steht die Konkurrenz bereits in den Startlöchern.

3. Euphorie dank Ford

1910 erreicht das Kautschukfieber seinen Höhepunkt. Fortschritte in der amerikanischen Automobilindustrie heizen die Nachfrage nach Gummi nach der Jahrhundertwende an. Henry Ford gründet 1903 in Detroit die Ford Motor Company, fünf Jahre später öffnet General Motors die Tore. Der Bedarf an Autoreifen schnellt in die Höhe, und der Preis für Naturkautschuk steigt kräftig. Im Herbst 1909 kostet ein Kilo des Rohstoffs knapp 5 $. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr. Im April 1910 notiert Kautschuk mit über 6 $ pro Kilo auf dem Höchststand.

Die Gewinnaussichten von Unternehmen im Kautschukgeschäft sorgen auch an den Aktienmärkten für Euphorie. Von Januar bis April 1910 werden an der Londoner Börse mehr als 500 Gesellschaften kotiert, die ihr Geld mit Kautschuk verdienen. Die «New York Times» schätzt, dass Briten mehr als 500 Mio. $ in Gummi-Aktien investiert haben. «Im vergangenen Monat hat jedes seriöse Blatt seine Leser davor gewarnt, mit Aktien von Kautschukunternehmen zu spekulieren. In vielen Fällen handelt es sich um offenen Betrug», warnt die Zeitung in der Ausgabe vom 24. April 1910. Doch unter Anlegern stossen die Mahnungen auf taube Ohren. Beinahe täglich gelangen neue Unternehmen an die Börse, deren Emissionen hoffnungslos überzeichnet sind.

Doch das böse Erwachen folgt schon bald: Im Sommer 1910 brechen die Preise für Kautschuk ein und erholen sich nicht mehr. Der Niedergang von Brasiliens marktbeherrschender Stellung nimmt seinen Lauf.

4. Das Unheil aus Malaysia

Die Saat des Verderbens wird bereits 1876 gelegt. Der englische Naturforscher Henry Wickham schmuggelt Samen des Kautschukbaums, getarnt als Orchideensamen, aus dem Amazonasbecken nach Grossbritannien. In Gewächshäusern ziehen die Briten Setzlinge, die sie in ihren Kolonien in Malaysia und Ceylon anpflanzen – das Monopol Brasiliens ist gebrochen.

Erste kleinere Plantagen existieren in Malaysia bereits 1895. Doch erst als die Nachfrage nach Gummi explodiert und die Preise steigen, ruft das finanzkräftige Investoren auf den Plan. Grossflächige Kautschukplantagen schiessen in Südostasien aus dem Boden. Die Pflanzen gedeihen im günstigen Klima und ohne natürliche Feinde prächtig. Für das Amazonasgebiet ist die Entwicklung verheerend, denn die britischen Kolonialherren in Asien stellen die Kautschukproduktion radikal um. Sie heuern Massen von billigen Arbeitskräften an, der Transport ist günstig und das Land leicht zugänglich. Die Produktionskosten betragen einen Bruchteil derjenigen der arbeitsintensiven Kautschukgewinnung im Amazonasdschungel. Zudem kann in Malaysia, anders als in Brasilien, das ganze Jahr über geerntet werden, und die medizinische Versorgung der Arbeiter ist besser. Im Amazonas erschweren Krankheiten wie Malaria oder das Gelbfieber die Bedingungen.

Als die Preise unter Druck geraten, kann Brasilien nicht mehr mithalten. 1913 produziert Asien bereits 25% mehr Kautschuk als das Amazonasbecken. Die Engländer übernehmen die Kontrolle über den Rohstoffmarkt.

5. Verfall im Amazonas

Das Luxusleben in Manaus endet abrupt. Die Region hat voll auf die Gewinnung von Kautschuk gesetzt. Mit dem Niedergang der Industrie versiegt der Geldstrom, die Steuereinnahmen kommen zum Erliegen, Einnahmen aus Exportzöllen bleiben aus. Die Region fällt in eine zähe Rezession; die Arbeitslosigkeit schiesst nach oben. Die Ausländer kehren der Stadt den Rücken. Die prunkvollen Gebäude verwittern, der Betrieb der Strassenbahn muss eingestellt werden. In den frühen Zwanzigerjahren liegt das Pro-Kopf-Einkommen im Amazonasgebiet wieder auf dem Niveau von vor dem Kautschukboom.

Die letzte Aufführung unter der goldenen Kuppel des Opernhauses in Manaus findet 1907 statt. Danach wird  das Gebäude dem Zerfall überlassen. Das feuchte Klima und eine Invasion von Termiten lassen den alten Glanz schnell verblassen. Es dauert mehr als achtzig Jahre, bis das Teatro Amazonas nach umfangreichen Renovierungen im März 1990 wiedereröffnet wird – diesmal mit einem Opernstar ohne Angst vor Malaria: Auf der Bühne steht der spanische Tenor Plácido Domingo.