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Käuflichkeit des Bösen

Am 23. Juli gab Alejandro Werner, Direktor der Abteilung für die westliche Hemisphäre des Internationalen Währungsfonds, bekannt, dass der IWF eine Inflation in Venezuela bis zum Jahresende von einer Million Prozent erwartet. Im April hatte der IWF bekanntgegeben, dass das venezolanische BIP bis dahin 45% unter dem Niveau von 2013 liegen wird. Das sind verblüffende Zahlen. Wie und warum konnte so etwas passieren?

Die Wissenschaft beantwortet Fragen nach dem «Wie» besser als solche nach dem «Warum». Die Schwerkraft erklärt, wie sich Himmelskörper auf Distanz anziehen, sie sagt uns aber nicht, warum – das ist eine Frage der Metaphysik. Die Biologie kann erklären, dass wir an Gewicht zunehmen, wenn wir mehr Kalorien verbrauchen als wir verbrennen, doch erklärt das nicht, warum ich es oft tue. Indem wir die Mechanismen verstehen, die die Ergebnisse zeitigen, können wir Strategien entwickeln, um sie zu stoppen, zu verhindern, zu fördern oder zu überwinden. Wenn ich weniger Kalorien zu mir nehme und mehr Sport treibe, sollte ich abnehmen.

Aber das Verstehen der «Wie»-Frage macht die «Warum»-Frage oft noch mysteriöser. Sind so viele Menschen übergewichtig wegen mangelnden Wissens, Charakterschwäche, Sucht oder einem Problem mit den Prozessen, die Hunger und Sättigung verursachen?

Tiefe Rezession und hohe Inflation

Der Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler Paul Samuelson lobte einst die Makroökonomie dafür, «den Vorkriegsdinosaurier in eine Nachkriegseidechse verwandelt zu haben». Die Entdeckung der Mechanismen, mit denen grosse wirtschaftliche Schwankungen auftreten, hatte zu einem Verständnis der Anwendung von Fiskal- und Geldpolitik geführt, um Krisen in der Art der Grossen Depression (als die US-Wirtschaft von 1928 bis 1933 um 28,9% schrumpfte) zu meistern, wenn nicht zu verhindern.

Ökonomen wurden für die Rezession nach 2008 stark kritisiert, doch dank schneller fiskalischer und geldpolitischer Massnahmen auf der Grundlage der makroökonomischen Theorie sank das BIP in den USA nur 3,1%. In Europa, trotz der grossen aussenwirtschaftlichen Defizite in einigen südlichen und östlichen Mitgliedstaaten der EU zu Beginn der Krise und der vom Euro implizierten Fesseln, wurde der Rückgang des BIP in den stark betroffenen Ländern Irland, Italien, Portugal und Spanien auf weniger als 10% gedrückt. Auch hier halfen aggressive – und zu jener Zeit umstrittene – politische Massnahmen, besonders durch die Europäische Zentralbank, die Folgen des Beinahe-Zusammenbruchs des globalen Finanzsystems einzudämmen.

Wie kommt es dann, dass Venezuela eine BIP-Kontraktion verzeichnet, die diejenigen der Grossen Depression, des Spanischen Bürgerkriegs (als das BIP 29% sank) oder der jüngsten Griechenlandkrise (als die Wirtschaft 26,9% schrumpfte) in den Schatten stellt? Wie konnte dies geschehen, während gleichzeitig eine Hyperinflation in einer Grössenordnung entstand, die nur in Deutschland im Jahr 1923 oder in Simbabwe in den Jahren 2008/09 zu beobachten war?

Ölpreisbaisse führte zum Kollaps

Die Antwort ist überraschend einfach und klar. Die Regierung nutzte den Ölboom, der 2004 begann, die Gesellschaft zu entmachten und die staatliche Kontrolle über Produktion und Markt zu verschärfen, während sie sich auf den internationalen Märkten massiv verschuldete. Obwohl die staatliche Kontrolle der Produktion schadete, konnte die Regierung die Öffentlichkeit durch subventionierte Importe vor den Folgen schützen, was die heimische Produktion weiter beeinträchtigte.

2013 führte die übermässige Kreditaufnahme der Regierung dazu, dass sie den Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten verlor, was den Beginn der Rezession auslöste. 2014 fiel der Ölpreis stark, so dass das vorherige Importniveau nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte, was einen viel tieferen Kollaps bewirkte. Damals wurde klar, dass die Regierung ihr Vorgehen ändern musste. Selbst Kabinettsmitglieder der Regierung von Präsident Nicolás Maduro drängten auf eine Rückkehr zu marktfreundlicherer Politik und zu internationaler finanzieller Unterstützung. Stattdessen setzte Maduros Regierung noch einen drauf und verschärfte die marktverzerrenden Kontrollen.

Ende 2015 war auch klar, dass ein schwerer Zusammenbruch bevorstand – und sogar, dass eine Hungersnot bevorstand. Nichts wurde getan, um das zu verhindern. Angebote humanitärer Hilfe wurden abgelehnt. Da die Importe, die Produktion und die Steuereinnahmen zusammenbrachen, entschied sich die Regierung, das Geld zu drucken, das zur Deckung des Haushaltsdefizits benötigt wird, was eine Hyperinflation auslöste.

Es ist nicht Ignoranz…

Aber während das «Wie» des Zusammenbruchs in Venezuela klar ist und vorhergesagt wurde, ist die «Warum»-Frage schwerer zu beantworten. Warum entschied sich die Regierung, obwohl klar formulierte Alternativen auf dem Tisch lagen, für ein vorhersehbar katastrophales Vorgehen, zu so hohen menschlichen Kosten?

Es gibt drei Möglichkeiten: Unwissenheit, Absicht und strategische Interaktion. Fangen wir mit dem letzten an. In einem Papier von 1991 schlugen Allan Drazen und Alberto Alesina vor, dass sich die wirtschaftliche Stabilisierung verzögern könnte, weil zwei konkurrierende Gruppen in einem Zermürbungskrieg gefangen sind. Beide verstehen, dass eine Anpassung notwendig ist, erwarten jedoch, dass die andere Gruppe die Hauptlast der Kosten trägt. Durch Verzögerung liefern sie der anderen Gruppe Informationen über ihre Bereitschaft, dem Schmerz standzuhalten. Der Prozess setzt sich fort, bis eine Gruppe kapituliert und die Kosten der Anpassung trägt, um von der Stabilisierung zu profitieren. Doch in einem totalitären Regime wie in Venezuela (und im Hintergrund das mitbestimmende Kuba) ist es schwer zu sagen, wer in einem Zermürbungskrieg mit wem gefangen ist.

Ignoranz wiederum ist eine schwache Erklärung. Es stimmt, die Regierung hat kein einziges Kabinettsmitglied mit einem Wirtschaftsabschluss, und Maduro hat gerade mal die Grundschule abgeschlossen, doch viele ehemalige Chavistas plädieren für eine Änderung der Politik in eine vernünftigere Richtung. Wenn die Regierung unwissend ist, dann weil sie sich bewusst für Ignoranz entschieden hat.

…sondern Absicht

Bleibt die Variante Absicht. Die Regierung wählte dieses Vorgehen, weil sie der Meinung war, es sei besser als die Alternativen. Doch es ist schwierig, sich Handlungsweisen vorzustellen, die für Millionen von Menschen noch schlechtere Ergebnisse bewirken als die jetzige. Was übersehen wir also?

Der einzige Ausweg aus der Krise bestand darin, die venezolanische Gesellschaft zu befähigen, eine marktwirtschaftliche Produktion zu organisieren, um den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden. Aber das war dem Regime ein Gräuel. Angesichts der Wahl, die Menschen entweder zu ermächtigen oder auszuhungern, entschied sich das Regime für Letzteres und kaufte sich dafür so viele bestechliche Handlanger, wie sie für ihre Strategie braucht. Ja, die Katastrophe würde zwar das Regime schwächen, doch die Gesellschaft würde noch schwächer werden, was sicherstellt, dass das Regime die Kontrolle behält.

«Böse» sein definiert sich als: willentlich Schaden anrichten. Letztlich gibt es keine andere plausible Erklärung für das, was in Venezuela passiert ist.

Copyright: Project Syndicate.