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Die Handelskriege der Kodependenz

Kodependenz in persönlichen Beziehungen nimmt nie ein gutes Ende. Wenn man den stetig eskalierenden Handelskrieg zwischen den USA und China zugrunde legt, scheint das Gleiche für wirtschaftliche Beziehungen zu gelten.

Auch wenn ich 2014 ein Buch über die kodependente Wirtschaftsbeziehung zwischen den USA und China veröffentlicht habe, wäre ich der Erste, der zugeben würde, dass es ein grosser Schritt ist, Erkenntnisse der Humanpsychologie auf die Beurteilung des Verhaltens von Volkswirtschaften auszuweiten. Doch die Ähnlichkeiten sind verblüffend, und die Prognose ist umso überzeugender, als die beiden weltgrössten Volkswirtschaften nun in einem gefährlichen Dilemma versinken.

Vereinfacht formuliert tritt eine Kodependenz an einem der Extreme der Beziehungsdynamik ein: wenn zwei Partner mehr voneinander zehren als von ihrer eigenen inneren Stärke. Dies ist kein stabiler Zustand. Eine Kodependenz vertieft sich, da das Feedback des Partners tendenziell an Bedeutung gewinnt und das eigene Selbstvertrauen infolgedessen stetig abnimmt. Die Beziehung wird hochgradig reaktiv und belastet, die Spannungen nehmen zu. Irgendwann gerät ein Partner unweigerlich an seine Belastungsgrenze und sucht dann eine neue Quelle der Kraft. Dies führt dazu, dass der andere sich missachtet fühlt, in Ablehnung und Schuldzuweisungen verfällt und letztlich einen rachsüchtigen Trieb verspürt, als Reaktion um sich zu schlagen.

Vernunftheirat Ende der Siebzigerjahre

Die Argumente für eine wirtschaftliche Kodependenz zwischen den USA und China sind seit vielen Jahren bestechend. Als China in den späten Siebzigerjahren, nach den kumulativen Erschütterungen durch Maos «grossen Sprung nach vorn» und die Kulturrevolution, am Rande des Zusammenbruchs stand, orientierte es sich rasch in Richtung USA, um dort Unterstützung für Deng Xiaopings Strategie der «Reform und Öffnung» zu erhalten. Zugleich waren die USA, die Ende der Siebzigerjahre in einer Stagflation steckten, eifrig um neue Wachstumslösungen bemüht; preiswerte chinesische Importe waren Medizin für die einkommensschwachen amerikanischen Verbraucher.

Die USA begannen zudem, Chinas umfassende Ersparnisüberschüsse in reichlichem Masse für Kredite anzuzapfen – eine bequeme Lösung für das Land mit dem weltgrössten Spardefizit. Diese aus der Unschuld heraus geborene beiderseitige Abhängigkeit gedieh dann zu einer scheinbar paradiesischen Vernunftheirat.

Doch leider war es keine liebevolle Beziehung. Tiefsitzende Voreingenommenheiten und Ressentiments – bedingt durch Chinas sogenanntes Jahrhundert der Demütigung im Gefolge der Opiumkriege des 19. Jahrhunderts und dadurch, dass Amerika in der Beurteilung der von einem sozialistischen Staat wie China ausgehenden Bedrohung nicht aus seiner Haut konnte – erhielten ein langfristig köchelndes Misstrauen am Leben, das den Boden für den aktuellen Konflikt bereitet hat. Wie die menschliche Pathologie der Kodependenz es nahelegen würde, trennten sich dann irgendwann beider Wege.

Chinas neues Wachstumsmodell

China zeigte als Erstes den Mut zur Veränderung und verschrieb sich einer wirtschaftlichen Neuausrichtung, in der Peking das Wachstumsmodell von der Aussen- auf die Binnennachfrage und von Exporten und Investitionen auf den privaten Konsum umstellte. Chinas Fortschritte hierbei waren durchwachsen, doch das Endspiel steht nicht länger in Zweifel. Unterstrichen wird dies durch die Abkehr von Ersparnisüberschüssen hin zur Absorption von Ersparnissen. Nachdem sie 2008 mit 52,3% ihren Höchststand erreichte, ist Chinas nationale Bruttosparquote um rund sieben Prozentpunkte gefallen und dürfte in den kommenden Jahren weiter sinken, denn China ist dabei, sein lange Zeit löchriges soziales Netz zu verstärken, was Chinas Familien ermuntern dürfte, ihre durch Furcht bedingten Vorsorgeansparungen zu reduzieren.

Zugleich bietet die Explosion im elektronischen Handel in einer zunehmend digitalisierten (d.h. bargeldlosen) Volkswirtschaft Chinas sich herausbildender Mittelschicht eine leistungsstarke Konsumplattform. Die Umstellung von importierten zu eigenen Innovationen ist für Chinas langfristige Strategie zentral, um erstens die Falle des mittleren Einkommens zu vermeiden und zweitens bis 2050 Grossmachtstatus zu erreichen, so wie Präsident Xi Jinpings Jahrhundertziele für die «neue Ära» das vorsehen.

Im Einklang mit der menschlichen Pathologie der Kodependenz haben sich Chinas Umstellungen zu einer Quelle wachsenden Unbehagens für die USA entwickelt, die über Chinas Schwenk bei den Ersparnissen nicht gerade erfreut sein können. Angesichts der Tatsache, dass sich Amerikas Spardefizit im Gefolge der zeitlich schlecht geplanten Steuersenkungen des vergangenen Jahres nun verschärft, wird, was die Füllung dieser Lücke angeht, die Abhängigkeit der USA von Ländern mit Ersparnisüberschüssen wie China nur weiter zunehmen. Doch Chinas Schritt zur Absorption seiner Ersparnisse lässt diese Option schrumpfen.

China ändert sich, Amerika nicht

Mehr noch: Während Chinas in den Kinderschuhen steckende konsumgetriebene Wachstumsdynamik beeindruckend ist, haben Beschränkungen des Marktzugangs bisher verhindert, dass die US-Unternehmen einen ihrer Ansicht nach fairen Marktanteil an der potenziellen Goldader auf sich vereinen konnten. Natürlich besteht eine enorme Kontroverse in Bezug auf die Verschiebung bei den Innovationen, die durchaus den Kern des aktuellen Zollkriegs bilden könnte.

Ganz gleich, was der Ursprung dafür sein mag: Die Konfliktphase der Kodependenz steht nun bevor. China ist dabei, sich zu verändern, oder versucht es zumindest, während das für Amerika nicht gilt. Die USA bleiben weiterhin der abgenutzten Mentalität eines Landes verhaftet, das zu wenig spart; sie weisen massive multilaterale Handelsdefizite auf und sind zur Unterstützung ihres Wirtschaftswachstums auf einen ungehinderten Zugriff auf die Ersparnisüberschüsse der Welt angewiesen. Aus der Perspektive der Kodependenz heraus fühlen sich die USA jetzt von ihrem einst fügsamen Partner missachtet und schlagen daher nun, wie vorherzusehen war, um sich.

Dies bringt uns zu der brennenden Frage: Wird der Handelskonflikt zwischen den USA und China eine friedliche Beilegung finden oder in einer erbittert ausgefochtenen Scheidung enden? Lehren aus dem menschlichen Verhalten könnten die Antwort hierauf bergen. Statt aus Schuldzuweisungen, Verachtung und Misstrauen heraus zu handeln, müssen sich beide Länder darauf konzentrieren, von innen heraus ihre eigene wirtschaftliche Stärke wiederherzustellen. Dies wird Kompromisse auf beiden Seiten erfordern – und zwar nicht nur im Bereich des Handels, sondern auch in den zentralen Wirtschaftsstrategien, die beide Nationen verfolgen.

Innovationsdilemma

Das Innovationsdilemma ist dabei bei weitem die umstrittenste Frage. Die Konfliktphase der Kodependenz fasst es als einen Nullsummenkonflikt auf: Amerikas Anschuldigungen in Bezug auf Chinas Diebstahl von geistigem Eigentum werden von der Trump-Regierung als nichts weniger als eine existenzielle Bedrohung für Amerikas wirtschaftliche Zukunft dargestellt. Doch als klassisches Symptom einer Kodependenz betrachtet, sind diese Befürchtungen übertrieben.

Innovation ist in der Tat das Lebensblut für den nachhaltigen Wohlstand jedes Landes. Doch als Nullsummenkonflikt darstellen muss man sie nicht. China muss von importierter auf eigene Innovation umstellen, um der Falle des mittleren Einkommens zu entgehen – einem wichtigen Stolperstein für die meisten Entwicklungsländer. Die USA müssen sich wieder auf die Innovation konzentrieren, um einen neuerlichen besorgniserregenden Produktivitätsrückgang zu überwinden, der zu einer zerstörenden Stagnation führen könnte.

Dies könnte sehr wohl das Fazit der Handelskonflikte zwischen kodependenten Ländern sein. Die USA und China brauchen zu ihren jeweils eigenen Zwecken – in den Begrifflichkeiten der Kodependenz ausgedrückt: für ihr eigenes persönliches Wachstum – beide eine innovationsbestimmte Volkswirtschaft. Einen kodependenten Nullsummenkonflikt in eine Positivsummenbeziehung wechselseitig profitabler Interdependenz zu verwandeln, ist die einzige Möglichkeit, diesen Wirtschaftskrieg zu beenden, bevor er sich in etwas deutlich Schlimmeres verwandelt.

Copyright: Project Syndicate.

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