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Die Börse ist kein Seismograf

Von 1435 Indexpunkten zum Jahresende 1988 auf 8429 Indexpunkte zum Jahresende 2018 bedeutet nahezu eine Versechsfachung des Börsenwerts in dreissig Jahren. So viel zur Verlaufsgeschichte des SMI (Swiss Market Index), des bedeutendsten Aktienindex der Schweiz, eingeführt am 30. Juni 1988 mit einem normierten Basiswert von 1500 Punkten und einem aktuellen Wert von 8842 gegen Ende der laufenden Woche.

Im selben Zeitraum wuchs das schweizerische Bruttoinlandprodukt (BIP) von 306 Mrd. Fr. 1988 auf 686 Mrd. Fr. 2018. Das BIP als wichtigster volkswirtschaftlicher Indikator stieg somit auf das 2,2-Fache. Ein Wachstumsfaktor von 5,9 beim SMI und von 2,2 beim BIP veranschaulicht auf einfachste Weise das komplette Fehlen eines Zusammenhangs zwischen Börsenentwicklung und Wirtschaftsentwicklung.

Das gleiche Auseinanderlaufen der langfristigen Zeitreihen zeigt sich in den USA und Deutschland. Der Standard-&-Poor’s-Aktienindex der 500 grössten kotierten amerikanischen Unternehmen gegenüber dem US-BIP und der Deutsche Aktienindex (Dax) der dreissig grössten Unternehmen Deutschlands gegenüber dem deutschen BIP driften in ähnlichen Dimensionen auseinander wie in der Schweiz.

Dass sich Börsenkurse und Wirtschaft völlig unabhängig voneinander entwickeln, lässt sich mit einer Vielzahl empirisch gut belegter Gründe erklären. Getrieben durch Eigeninteressen und Herdentrieb von Händlern, Vermögensverwaltern und Ratingagenturen sind Kursentwicklungen auf Finanzmärkten durch «irrationalen Überschwang» gekennzeichnet.

So bezeichnet Robert J. Shiller, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 2013, die Ursachen des Phänomens, dass Börsenkurse in der Regel weit neben den Fundamentaldaten liegen. Er beschreibt, wie es nahezu zwangsläufig zu «Blasen» kommen muss, wenn «die Nachricht von einer Preiserhöhung die Begeisterung von Anlegern im Zuge einer Art psychologischer Epidemie anheizt».

So kommt es zu eigendynamisch nach oben schnellenden Börsenkursen, die gar nichts mit Fundamentaldaten der realen Wirtschaftsentwicklung zu tun haben, sondern v. a. «ein Wunschdenken als Ausdruck des Vertrauens und der Zuversicht» spiegeln – so Shiller weiter.

Unternehmenswert statt -gewinn

Andere versuchen das Auseinanderdriften von realwirtschaftlicher Entwicklung und Börsenkursen zu erklären, indem sie die demografische Alterung der Bevölkerung ins Spiel bringen und daraus ein anderes (längerfristiges) Anlageverhalten ableiten. Weil über sehr lange Zeiträume Börsenwerte in der Tat gestiegen sind und wohl weiter steigen werden, werden für die Altersvorsorge in jüngeren Lebensjahren Aktien gekauft und anschliessend im Depot aufbewahrt. Die durch das langfristige Investorenvertrauen erhöhte Nachfrage lässt dann die Kurse zusätzlich steigen.

Schliesslich lässt sich zeigen, dass der wirtschaftliche Unternehmenserfolg einem Wandel der Anlegerwünsche unterliegt. In früheren Zeiten erwarteten Investoren eine Verzinsung ihres Eigenkapitals in Höhe des (durchschnittlichen) Fremdkapitalzinses, also des Zinses, der von einer Firma hätte bezahlt werden müssen, wenn das Kapital in Form eines Darlehens von einer Geschäftsbank und nicht von Investoren gekommen wäre. Bei dem seit den Neunzigerjahren dominanter werdenden Konzept des Shareholder Value wird von den Managern eine Maximierung des Unternehmenswerts (und nicht mehr des Unternehmensgewinns) verlangt.

Unternehmensgewinne lassen sich konkret messen (bei aller Problematik, die mit zeitlichen, räumlichen und sächlichen Abgrenzungen und Abschreibungen zusammenhängt). Unternehmenswerte hingegen sind reine Fiktion. Sie sollten die Erwartungen künftiger Gewinne abbilden, wobei beides gemeint ist: Unternehmensgewinne und – meist wichtiger – Kursgewinne zwischen Verkaufs- und Ankaufswert der Aktien.

Wenn jedoch der erwartete Kursgewinn die heutige Kaufentscheidung bestimmt, ist der «irrationale Überschwang» bereits fest verankert. Er ist dann die Folge einer sich selbst erfüllenden Hoffnung, gespeist aus der durch die eigene Kaufentscheidung erhöhten Nachfrage, die den Aktienpreis in der Tat nach oben bewegt.

Aber eigentlich sind es Erwartungen höherer Ordnung, die eine Rolle spielen: Nicht was Personen selbst erwarten, ist oft entscheidend. Vielmehr ist es die Erwartung, was andere erwarten, die das dynamische Aktienkarussell treibt. Wer erwartet, dass andere von Kurssteigerungen ausgehen, wird allein dadurch bereits zum Aktienkauf ermuntert – unwichtig, ob die Erwartung anderer mit Fundamentaldaten in Einklang ist oder ob die eigene Erwartung der Erwartung anderer entspricht.

Dazu kommt, dass der Tageskurs das Ergebnis eines winzig kleinen Teils des Bestands aller Aktien ist, die ein Unternehmen emittiert hat – nämlich nur derjenigen Aktien, für die es an einem Handelstag ein Angebot, eine Nachfrage und einen tatsächlichen Aktientausch gab. Aus dem aktuellen Tageskurs einiger weniger Anteile den Marktwert aller Aktien und daraus den Unternehmenswert insgesamt hochzurechnen, führt nicht zu einem realwirtschaftlich relevanten Ergebnis, sondern in die Irre. Oder was hat es mit der Realität und «realen Werten» zu tun, dass Apple im Herbst noch mehr als 1 Bio. $ wert gewesen sein soll, zwei Monate später jedoch nur noch weniger als 600 Mrd. $?

Börsenkurse folgen nicht der Makroökonomie – und noch weniger folgt die Makroökonomie den Börsenkursen. Oder überspitzt formuliert: Die beiden Datenreihen haben gar nichts miteinander zu tun, sie haben kein gemeinsames Muster, und sie verlaufen beide auf getrennten eigenständigen Pfaden – was im Übrigen ja auch genau dafür verantwortlich ist, dass Prognosen der Entwicklung der Börsenwerte derart schwierig sind.

Anlageexperten besitzen bei ihren Voraussagen für die künftige Wertveränderung kein besseres Wissen als Laien, und die Trefferwahrscheinlichkeit bei Börsenprognosen von Personen, die sich tagtäglich mit Finanzmärkten beschäftigen, ist nicht höher als der Zufall.

Kursverluste sind keine Vorboten

Angesichts des Fehlens eines Zusammenhangs zwischen Börsenentwicklung und Wirtschaftsentwicklung und des Auseinanderdriftens von Aktienkursen und BIP-Verlauf überrascht es sehr, wie sensibel Medien und Öffentlichkeit – gerade zum Jahreswechsel – auf Ausschläge an den Finanzmärkten reagieren. Als wäre die Börse ein Seismograf dafür, was in der Wirtschaft passiert, werden Kursverluste als Vorbote makroökonomischer Erdbeben interpretiert.

Wenn eine Umsatzwarnung von Apple die Finanzmärkte weltweit auf Talfahrt schickt, verursacht das auf den Devisenmärkten einen «Flash Crash», wertet sich der Dollar gegenüber dem Yen mehrere Prozentpunkte ab und wachsen weltweit die Sorgen um einen konjunkturellen Abschwung. Warum eigentlich?

Börsenkurse sind weder Messgeräte für schwere realwirtschaftliche Erschütterungen, noch sind sie feinfühlige Fiebermesser für die Konjunktur. Sie sind nichts anderes als Wetten auf die Zukunft, oft nicht einmal das, sondern nur reine Wetten zwischen Käufern und Verkäufern von Wertpapieren, oft getrieben von Eigeninteressen der Händler und der Vermögensverwalter.

Die Rhetorik der Finanzmärkte ist das eine. Die Realität der Wirtschaft ist eine völlig andere. Börsen können crashen, die Ökonomie nicht. Firmen können in Konkurs gehen und verschwinden. Staaten und ihre Bevölkerung bleiben, selbst wenn sie pleitegehen.

Aktien können über Nacht immens an Wert verlieren oder komplett wertlos werden. Die reale Welt – Häuser, Strassen, Infrastruktur, Unternehmensanlagen, öffentliche Netze – sind davon nahezu völlig unberührt. Wenn makroökonomisch etwas schiefläuft, geht es beim BIP um Stellen nach und nicht vor dem Komma.