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Der wicksellsche Prozess

Die mächtigsten Notenbanker (und Finanzminister) in Jackson Hole, Wyoming: Sie alle leben den Geist Knut Wicksells.

Zentralbanken sind die Meister über die Finanzmärkte. Wann immer die mächtigsten Währungshüter der Welt sprechen, hängen Investoren an ihren Lippen. Werden die Zinsen weiter gesenkt? Oder ist in einigen Fällen, etwa in den USA, die Zeit bald reif für erste Er­höhungen? Die Zinspolitik zur Sicherstellung der Preisstabilität zählt heute für alle namhaften Zentralbanken, auch in der Schweiz, zum Standardinstrument.

Doch wer hat’s erfunden? Ein Schwede. Bewusst oder unbewusst folgen die Zentralbanken der Lehre eines Mannes, der für sich beanspruchen kann, alle grossen Strömungen der Volkswirtschaftslehre im 20. Jahrhundert geprägt zu haben – und dessen Schicksal es war, dass seine Arbeit erst nach seinem Tod im Olymp der Ökonomie gewürdigt wurde: Knut Wicksell.

Gegen den Zeitgeist

Das Fundament der modernen Geldpolitik wurde 1898 gelegt, als Wicksell ein 190-seitiges Büchlein mit dem Titel «Geldzins und Güterpreise» publizierte. Wicksell, damals 47, hatte sich in Nordeuropa als Ökonom einen respektablen Ruf erarbeitet und bereits drei Bücher publiziert – darunter «Finanztheoretische Untersuchungen», welches später die Public-Choice-Theorie des US-Ökonomen James Buchanan beeinflussen sollte.

«Geldzins und Güterpreise» sollte Wicksells Meisterwerk werden. Es ist im Stil eines Essays verfasst, fast ohne mathematische Formeln; der Autor drückt im Vorwort sein Bedauern aus, dass er nichts weiter als Hypothesen aufgestellt habe, die er empirisch nicht nachweisen könne.

Um die Tragweite von Wicksells These zu erkennen, ist ein Blick auf den Zeitgeist der Jahrhundertwende nötig. Die dominierende ökonomische Lehre war die Neoklassik, mit Exponenten wie Léon Walras, deren Gleichgewichtstheorie besagte, dass sich in jedem freien Markt Angebot und Nachfrage auf einem bestimmten Preisniveau ausgleichen. Die meisten Länder waren an eine Form des Goldstandards gebunden; Phasen von Inflation waren je nach Staat ungefähr gleich häufig wie Phasen von Deflation.

Knut Wicksell identifizierte Inflation und Deflation gleichermassen als Übel, weil sie eine unfaire Umverteilung zwischen Schuldnern und Gläubigern darstellen. Der Staat müsse die Preisstabilität als hohes Gut pflegen, schrieb er. Um Inflation und Deflation bekämpfen zu können, müssen sie jedoch, erstens, systematisch messbar sein. Zweitens müssen ihre Ursachen festgestellt werden. Zur Lösung der Frage der Messbarkeit schlug Wicksell die Schaffung eines typischen Warenkorbs vor; die Methode ist heute Standard.

Die Kreditschöpfung im Auge

Revolutionär war Wicksells Erklärung der Ursachen von Inflation und Deflation. Als Erster seines Fachs erkannte er die Wichtigkeit des im 19. Jahrhundert aufstrebenden Bankensektors, der über die Kreditschöpfung Geld im Wirtschaftskreislauf kreieren kann. Die These stand im Widerspruch zur Quantitätstheorie des Geldes, gemäss der die Geldmenge nur durch ein äusseres, exogenes Ereignis steigen kann. Nach Wicksell ist die Kreditschöpfung der Hebel, der zu einem Boom und damit zu Inflation, respektive zu einer Kontraktion und Deflation führt. Daraus folgert er: Wer die Preisstabilität wahren will, muss die Kreditschöpfung unter Kontrolle bringen.

Für seine These – heute als wicksellscher oder Kumulativer Prozess bekannt – brachte er die Existenz zweier verschiedener Zinssätze ins Spiel: der Geld- und der natürliche Zins. Ersterer ist der Zinssatz, zu dem Banken Kredite gewähren. Der natürliche Zinssatz dagegen ist nicht observierbar; er entspricht dem Grenzgewinn, den ein Investor mit einer zusätzlichen Einheit Kapital erzielen kann. In Wicksells einfacheren Worten: Der natürliche Zins ist das, was man «mit Geld in der Hand verdienen kann oder zu verdienen hofft.»

Sind Geld- und natürlicher Zins gleich hoch, so liegt der Kapitalmarkt im Gleichgewicht. Das Angebot an Sparkapital entspricht der Nachfrage nach Investitionskapital. Zu einem Konjunkturboom mit Inflation kommt es, wenn der Geld- unter den natürlichen Zins sinkt. Deflation resultiert, wenn der Geld- höher als der natürliche Zins ist ( vgl. Textbox unten ).

Wicksell nennt in «Geldzins und Güterpreise» den Ruf nach einer staatlichen Instanz, die den Geld- und den natürlichen Zins ins Lot bringt. In inflationären Zeiten muss sie auf das Bankensystem einwirken und den Geldzins anheben, in deflationären Phasen muss sie den Geldzins senken. Er nahm damit die Rolle der modernen Zentralbank vorweg. Wicksells These war zudem die erste Kritik an der klassischen Sicht, wonach das Finanzsystem bloss ein vernachlässigbarer «Schleier» sei, der auf der realen Wirtschaft liege.

Weltruhm dank Keynes

«Geldzins und Güterpreise» hatte ein gravierendes Problem: Das Buch erschien auf Deutsch. Wicksell fand keinen englischen Verlag, wodurch er in der angelsächsischen Welt während Jahrzehnten unbekannt blieb. Ohne Einfluss blieb er freilich nicht: Die österreichische Schule um Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek nahm das Konzept des natürlichen Zinssatzes zur Basis für ihre Theorie der Konjunkturzyklen. An der Stockholmer Schule entwickelten derweil spätere Nobelpreisträger wie Gunnar Myrdal und Bertil Ohlin Wicksells Gedankengut weiter.

John Maynard Keynes schliesslich ist es zu verdanken, dass die Arbeit von Knut Wicksell in der angelsächsischen Welt bekannt wurde. 1936 – zehn Jahre nach Wicksells Tod – beauftragte Keynes seinen engsten Mitarbeiter, Richard Kahn, «Geldzins und Güterpreise» ins Englische zu übersetzen («Interest and Prices»).

Knut Wicksell kann als «Abraham der Makroökonomik des 20. Jahrhunderts» bezeichnet werden. Er kann für sich beanspruchen, sowohl den Keynesianismus wie auch die österreichische Schule massgeblich geprägt zu haben. Joseph Schumpeter schrieb 1965 über Wicksell: «Sein internationaler Ruf blieb weit hinter seiner Leistung zurück, bis Ende der Zwanziger- und zu Beginn der Dreissigerjahre die Fachwelt zu ahnen begann, dass er die Elemente der modernen Geld- und Zinstheorie vorweggenommen hatte.»

In den Kanon der Mainstream-Ökonomie der Nachkriegszeit erhielt Wicksell gleichwohl kaum Aufnahme. Die Rolle der Kreditschöpfung wurde in der Lehre wieder weitgehend ignoriert. Erst die Finanzkrise von 2008 rief in Erinnerung, wie gefährlich es ist, Ungleichgewichte im Finanz­system auszublenden.

Das Dilemma

Die schwerwiegendste Kritik an Wicksells Arbeit betrifft die Tatsache, dass die Höhe des natürlichen Zinssatzes nicht bewiesen werden kann. Das Dilemma zeigt sich in den ideologischen Disputen rund um die gegenwärtige Zentralbankpolitik: Die Exponenten der US-Notenbank oder der EZB stellen mit ihrer Politik implizit die Annahme auf, dass der natürliche Zins gegenwärtig auf einem abnormal niedrigen Niveau liegt. Um die Wirtschaft zu stimulieren, muss der Geldzins mit allen – auch unkonventionellen – Mitteln unter den natürlichen Zinssatz gedrückt werden.

Die Gegner dieser Geldpolitik – etwa die Ökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich – argumentieren, der natürliche Zins liege bereits heute höher als der Geldzins, was fremdfinanzierte Spekulationsblasen an den Finanzmärkten begünstige. Einen Beweis für ihre Annahme kann keine Seite liefern.

Wicksell selbst mass dem Mangel des nicht observierbaren natürlichen Zinssatzes wenig Bedeutung zu. Er empfahl, aus der Beobachtung des Preisniveaus Rückschlüsse auf das Niveau von Geld- und natürlichem Zins zu ziehen: Steigt die Inflation, ist der Geldzins zu niedrig; herrscht Deflation, ist der Geldzins zu hoch. In Anbetracht der deflationären Tendenzen in der Eurozone kann angenommen werden, dass Wicksell heute die Empfehlung abgeben würde, die EZB solle versuchen, den Geldzins weiter zu senken. Genau das versucht die Zentralbank unter ihrem Vorsitzenden Mario Draghi derzeit mit immer unkonventionelleren Methoden.