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Der Irrweg der Notenbanken

Der Kontrast ist in der Schweiz besonders frappant: Die Arbeitslosigkeit ist mit 2,5% so gering wie vor zehn Jahren, doch die Nationalbank hält den Leitzins tiefer als in der Finanzkrise – sie hat ihn 2015 auf –0,75% gesenkt. Im weltweiten Niedrigzinsumfeld und mit dem Franken als sicherem Hafen kann die SNB die Schweiz nicht befreien. Derweil treiben es die grossen Zentralbanken auf die Spitze, um ihr Ziel von punktgenau 2% Inflation zu erreichen. Sie haben sich verstiegen. Statt in immer gefährlicheres Gelände vorzustossen, mit noch grösserer Fallhöhe, sollten sie umkehren. Der erste Schritt zurück ist die Abkehr vom Dogma der 2%. Die SNB macht’s vor: Ihr Zielbereich geht von 0 bis 2%.

Der Trost ist schwach, dass die Nationalbank die Einzige ist, die ihr Mandat erfüllt. Die Teuerung ist seit Anfang 2017 über null und jetzt auf 0,7%.

Die Furcht, dass die erwartete Inflation unter das Punktziel fällt, diente der Europäischen Zentralbank als Rechtfertigung für ihr Anleihenkaufprogramm. Im Sommer 2014, am Notenbanktreffen in Jackson Hole, sagte EZB-Präsident Mario Draghi: «Im August zeigten die Märkte ein Absinken der Inflationserwartungen über alle Horizonte.» Zuvor lautete sein Mantra, die Erwartungen seien «fest verankert» beim Punktziel von «knapp unter 2%».

Die Inflationserwartungen, auf die sich Draghi auch heute beruft, sind ein fragwürdiges Konstrukt. Sie beruhen auf Terminkontrakten (Swaps), die beziffern, von welcher Inflation der Markt in fünf Jahren für die nachfolgenden fünf Jahre ausgeht. Im Sommer 2014 galt dieses Mass als dermassen obskur, dass es beim Informationsdienst Bloomberg gar nicht verfügbar war.

Obskure Inflationserwartung

2015 kam die Distriktnotenbank San Francisco Fed zum Schluss, dass solche marktbasierten Inflationsprognosen nichts taugen. Auf ihnen basierend hat die EZB seit 2014 ihre Bilanz von 2,2 auf 4,7 Bio. € ausgeweitet. Ihr Ziel erreicht sie trotzdem nicht, die Inflation ist 1,7%. Bis Oktober lag sie vier Monate über 2%, da argumentierte die EZB mit der Kerninflation ohne Energie und Nahrungsmittel, die derzeit 1,2% beträgt.

Das genügt anscheinend nicht. Im April betonte Draghi, das Inflationsziel sei symmetrisch. Folgerichtig könnte die EZB künftig Perioden mit einer Teuerung unter 2% mit solchen darüber kompensieren. Debattiert wird auch ein Freibetrag, der die Banken vom Negativzins entlastet, ähnlich wie in der Schweiz. Er würde es erleichtern, den Minuszins von –0,4% zu verschärfen.

Die US-Notenbank befolgt das Dogma der 2% für die Kerninflation, die auf 1,6% liegt. Der Finanzmarkt ist bereits so dressiert, dass spekuliert wird, das Fed könnte den Leitzins nur schon deshalb senken, um die Lücke zu schliessen. Zu seinem dualen Mandat gehört neben der Preisstabilität die Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosenquote ist mit 3,8% so tief wie zuletzt vor fünfzig Jahren.

Dennoch will das Fed die Inflationserwartungen anheben. Die Notenbanker kündigten im November an, Strategie und Werkzeuge zu überprüfen. Sie veranstalten überall im Land «Fed Listens Events», bei denen das Fed zuhört, was Fachleute und Interessengruppen vorschlagen. Diskutiert wird, wie bei der EZB, ein symmetrisches Ziel, zudem ein Negativzins und die Fixierung auch der langfristigen Zinsen.

Diese volle Zinskontrolle gilt in Japan seit 2016. Das Land ist offenbar Vorbild. Die dortige Zentralbank hat die Geldpolitik neu erfunden und erreicht ihr Punktziel ebenfalls nicht – die Teuerung beträgt 0,5%. 1990 platzte die Vermögensblase, gefolgt von langer Deflation. Die Bank of Japan lancierte 1999 die Nullzinspolitik und 2001 den Kauf von Staatsanleihen, 2010 kamen Unternehmensanleihen und börsengehandelte Aktienfonds (ETF) dazu.

All diese Neuerungen nur für das Dogma der 2%? Das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf ist gemäss den Ökonomen von Barclays in den letzten dreissig Jahren in Japan um ebenso viel gewachsen wie in den USA.

Die Bilanzsumme der Bank of Japan – sie hält bald die Hälfte aller japanischen Staatsanleihen – ist grösser als das Bruttoinlandprodukt. Das erreicht sonst nur die SNB. Bei der EZB beträgt die Bilanz 40% des BIP, beim Fed sind es knapp 20%. Soll Japan wirklich Vorbild sein?

Geldpolitik mit einem Inflationsziel hat sich bewährt, wie eine lange Liste von Fachliteratur zeigt. Sie sorgte von 1990 bis 2008 für eine geringe und stabile Teuerung. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Der Kampf gegen Windmühlen

Dem Inflationsdruck, den all die neuen Instrumente – früher sprach man vom Giftschrank der Geldpolitik – bewirken, stehen deflationäre Kräfte entgegen. Dazu gehört der internationale Wettbewerb, der die Preise herabdrückt, etwa durch technische Neuerungen wie die Digitalisierung und die globale Vernetzung. Der US-Ökonom Larry Summers postuliert eine säkulare Stagnation mit tiefen Zinsen und geringer Inflation, er diagnostiziert eine langfristige Nachfrageschwäche, womöglich weil eine alternde Bevölkerung mehr spart und weil der Produktivitätsfortschritt geringer wird. Gegen solch strukturellen Druck mit allen Mitteln anzukämpfen, um eine schon positive Inflation ein wenig zu erhöhen, ist absurd und gefährlich. Unter der oberflächlichen Stabilität nehmen die Verspannungen zu.

Mit dem Kauf von Anleihen verzerren die Notenbanken den wichtigsten Preis der Volkswirtschaft, den Zins, und zwar den langfristigen, sowie den Risikoaufschlag für Unternehmensanleihen. Der Zins sei nicht mehr Indikator für den Wert, sondern für die Aktionen der Zentralbank, sagte Jim Grant, Herausgeber des «Grant’s Interest Rate Observer», Anfang April im FuW-Interview.

Die Risikoprämien seien gesunken, damit drohten gefährliche Korrekturen auf den Wertschriftenmärkten, bestätigen der St. Galler Professor Reto Föllmi und der Ökonom Fabian Schnell von Avenir Suisse in einem Aufsatz vom April. Draghi aber sagte letzten Sommer erstmals, Wertschriftenkäufe seien zu einem «normalen Instrument der Geldpolitik» geworden, die EZB bezeichne sie nicht mehr als unkonventionell. Wenn sie nur dazu dienen, das Dogma zu befolgen, sind sie fehl am Platz.

Das Punktziel gewährt Spielraum

Mit dem Punktziel gewinnen die Notenbanken indes Raum, die Geldpolitik noch mehr zu lockern. Die EZB kann besonders expansiv agieren, um Risse in der Währungsunion zu übertünchen. Solche hat Draghi aber schon 2012 gekittet, durch sein berühmtes «Whatever it takes». Damals installierte die EZB das spezifische Anleihenkaufprogramm OMT für Krisenländer, verknüpft mit Restrukturierungsvorgaben. Es ist noch nie angewendet worden, steht aber für den Notfall bereit.

Das Fed gewinnt Spielraum, um Wallstreet zu stützen. Seit dem Schwarzen Montag im Oktober 1987 gilt die Doktrin des Alan Greenspan: Die Zentralbank schreitet rettend ein, wenn die Börse allzu sehr fällt. Das war auch im vierten Quartal 2018 so, Fed-Chef Jerome Powell scheint sich an die Tradition zu halten.

Und Japans Zentralbank, der Pionier der unkonventionellen Geldpolitik? Sie hat sich schlicht völlig verrannt und kann nicht mehr zurück.

Die Umkehr ist schwierig. Vorbild ist die SNB, mit ihrem Zielbereich von 0 bis 2%, der vernünftiger ist. Und selbst wenn die strukturellen Kräfte die Teuerung ein wenig unter null drücken, droht nicht gleich eine Deflationsspirale. Eine solche gab es in der Grossen Depression der Dreissigerjahre. In den Jahrzehnten davor, im Goldstandard, war das Preisniveau per saldo stabil, Inflation und Deflation wechselten sich ab. Gleichwohl wuchs die Wirtschaft, wie der Basler Professor Peter Bernholz 2014 in einem Aufsatz in der FuW zeigte.

Die Zentralbanken sollten das Dogma aufgeben und die Realität geringer Inflation akzeptieren. Je länger sie mit der Umkehr warten, desto grösser wird das Risiko.