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Der Fels des Anstosses

Der Brexit eröffnet Chancen, sagen die Brexiteers. Die Regierung Spaniens – die den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU keineswegs begrüsst – sieht das in einem Punkt genauso: die Chance, das Thema Gibraltar aufs Tapet zu bringen. Zwischen dem britischen Überseeterritorium an der Südspitze der Iberischen Halbinsel und Spanien verläuft eine (kurze) Landgrenze; diejenige zwischen Nordirland und der Republik Irland wird also nicht die einzige zusätzliche EU-Aussengrenze sein nach dem Brexit, ob mit oder ohne Deal.

Gibraltar, rund 33 000 Einwohner klein, ist bloss eine Landzunge in der Bucht von Algeciras, oder eben in der Bucht von Gibraltar. Doch dieser Fels kontrolliert die Strasse von Gibraltar, die Pforte vom Mittelmeer zum Atlantik. Die Briten unterhalten dort eine Garnison (im östlichen Mittelmeer zudem als Pendant noch zwei grosse Basen auf Zypern). Sie sicherten sich den strategisch äusserst wertvollen «Rock» 1713 im Frieden von Utrecht, zum Abschluss des langwierigen Spanischen Erbfolgekriegs. Damals erhielten sie auch Menorca, mussten die Insel jedoch 1783 wieder an Spanien zurückgeben. Just das ist übrigens eines der Argumente, mit denen Spanien auf die Rückgabe von Gibraltar pocht.

Steuergünstig

Gibraltar ist – bislang – der EU in einem Sonderstatut verbunden. Der Zollunion gehört das Territorium nicht an, so wurde es im Beitrittsvertrag des Vereinigten Königreichs zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG 1973 ausgemacht. Zu dieser Zeit regierte in Spanien noch uneingeschränkt General Francisco Franco. Der Übergang zur Demokratie erfolgte, nach seinem Tod, ab 1975, und 1986 trat Spanien der EU bei.

Erst kurz zuvor, 1985, war die Landgrenze zwischen Gibraltar und La Línea de la Concepción wieder völlig geöffnet worden. Franco hatte sie 1969 verriegelt. Aus dieser Zeit datiert auch eine Uno-Resolution, die eine Entkolonialisierung Gibraltars fordert. Zeitweilig wuchsen die militärischen Spannungen zwischen Spanien und «The Rock» bzw. den dort diensttuenden britischen Verbänden. Seit 1982 ist Spanien als Nato-Mitglied Waffenbruder der Briten. Eine erneute Blockade oder gar gewaltsame Versuche, den Status quo zu ändern, sind so gut wie ausgeschlossen.

Gibraltar hat sich nach den harten Blockade-Jahren zu einem wohlhabenden, steuerlich attraktiven Territorium entwickelt, es fehlt nicht an Briefkastengesellschaften: Auf dem Felsen sind rund 13 700 aktive Firmen registriert. Die angrenzende spanische Region Andalusien ist weit weniger wohlhabend, profitiert aber davon, dass täglich Tausende Grenzgänger zur Arbeit nach Gibraltar fahren.

Was der Brexit für Gibraltar bzw. mithin für den Nachbarn Spanien konkret bedeuten wird, lässt sich einstweilen kaum zuverlässig beurteilen, auch dieses Kapitel im verfahrenen Austrittsprozedere wirkt nebulös. Im Rahmen der Verhandlungen wurden Memoranden unterzeichnet, namentlich dahingehend, dass in Gibraltar domizilierte Gesellschaften in Spanien steuerpflichtig werden, wenn sie den grössten Teil ihrer Geschäfte dort abwickeln. Die Unternehmenssteuerrate beträgt in Gibraltar milde 10%, in Spanien dagegen international gängigere 25%. Ob solche Vereinbarungen mehr als symbolischen Wert haben, ist bis auf Weiteres offen, und erst recht ist unklar, was gelten wird, wenn es zum vertragslosen Brexit kommen sollte.

Das Steuergefälle trägt nicht dazu bei, der Bevölkerung Gibraltars (eine bunte anglo-mediterrane Mélange) die ganze oder teilweise Hinwendung vom Hause Windsor zum Hause Borbón schmackhaft zu machen. 2002 stimmte sie zu fast 99% gegen die Idee geteilter britisch-spanischer Souveränität. Im Brexit-Referendum von 2016 waren allerdings die Verhältnisse ebenso klar, mit 96% dagegen.

En passant: Es gibt bereits einen Fall geteilter Souveränität im spanischen Einflussbereich. Der kleine Pyrenäenstaat Andorra ist formell ein parlamentarisches Fürstentum. Staatsoberhäupter sind als Kofürsten der Bischof von Urgell und der Präsident Frankreichs.

Die Loyalität der Gibraltarians zur britischen Krone wurde 1954 besonders hervorgehoben, als die junge Königin Elisabeth II. den Felsen besuchte. Sehr zum Ärger Francos – und nicht nur zu seinem; auch Regimegegner empfanden den Status Gibraltars als entwürdigend und anachronistisch. Damals war Winston Churchill zum zweiten Mal Premierminister, mit unverändert wachem Sinn für die Wahrung imperialer Grösse.

Er konnte (oder wollte?) sich zu dieser Zeit nicht mehr richtig an eine champagnerselige Unterhaltung erinnern, die er als Kriegspremier 1941 in der spanischen Botschaft in London geführt hatte. Franco wurde von den Deutschen gedrängt, der Achse beizutreten; Churchill soll dem spanischen Botschafter, dem Herzog von Alba (mit Churchill sogar weitläufig verwandt), Konzessionen in Sachen Gibraltar in Aussicht gestellt haben für den Fall, dass Spanien neutral bliebe.

Spanien blieb neutral; Franco war umsichtig genug, zu Hitler und Mussolini, seinen Sponsoren im Bürgerkrieg (1936–1939), Distanz zu wahren. Die Alliierten siegten und Whitehall sah sich danach nicht mehr veranlasst, in Sachen «Rock» entgegenkommend zu sein. Für Spanien hatten die Briten ihr Versprechen gebrochen, die Briten wiederum stellten sich auf den Standpunkt, nicht wirklich etwas versprochen zu haben.

EU künftig an Spaniens Seite

So schnell dürfte sich auch nach dem Brexit an Londons Position nichts ändern.  Gewiss ist immerhin: Während die EU sich bisher in der Gibraltar-Frage zurückgehalten und Ärger mit den Briten vermieden hat, wird sie künftig hinter dem Mitgliedsland Spanien stehen. Die diplomatischen Gewichte werden sich zugunsten Madrids verschieben. Auf die nicht mehr zum Klub gehörenden Briten wird die EU keine besonderen Rücksichten mehr nehmen, umso mehr auf die künftig viertgrösste Wirtschaftsmacht der Union.

Jedenfalls wird alles, was die EU und das Vereinigte Königreich betreffend Gibraltar aushandeln, des spanischen Einverständnisses bedürfen. Was die Regierenden in Madrid (am 28. April wird in Spanien gewählt) aus ihrer etwas stärkeren Position machen können und werden, steht freilich auf einem anderen Blatt.

So sehr es für Spanien eine Genugtuung wäre, wenn «La Rojigualda» irgendwann auf dem Felsen flatterte (zur Not neben dem Union Jack), so tückisch könnte das übrigens zugleich sein. Vis-à- vis, auf dem afrikanischen Festland, besitzt Spanien die Exklaven Ceuta und Melilla (sowie einige küstennahe Inselchen), auf die Marokko im Prinzip Anspruch erhebt, allerdings ohne diesem Begehren Nachdruck zu verleihen. Einstweilen.