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Das Mysterium der niedrigen Zinsen

Die Zentralbanken verzerren das globale Zinsgefüge. Mit ihrer in den Jahren nach der Finanzkrise betriebenen ultralockeren Geldpolitik haben sie die Zinsen an den Finanzmärkten auf ein abnormal niedriges Niveau manipuliert. Niedrig-, Null- und sogar Negativsätze sind in zahlreichen Ländern seit Jahren die Norm, mit nachteiligen Konsequenzen für Sparer und Vorsorgeeinrichtungen.

So oder ähnlich klingt die Kritik, die von Investoren, Politik und Öffentlichkeit den Zentralbanken entgegenschlägt. Doch ist sie gerechtfertigt? Sind die Notenbanken mit ihrer ab Ende 2008 betriebenen Geldpolitik tatsächlich die Ursache der niedrigen Zinsen?

Zweifelsohne haben die mächtigen Zentralbanken und auch die Schweizerische Nationalbank in der Bekämpfung der Nachwehen der Krise diverse unkonventionelle Methoden angewandt.

Kauft eine Zentralbank im Rahmen eines Quantitative-Easing-Programms (QE) zum Beispiel in grossem Stil Anleihen, so hebt das – ceteris paribus – den Preis dieser Wertpapiere respektive deprimiert das Zinsniveau an den Anleihenmärkten.

Trotzdem greift der Vorwurf zu kurz, die Zentralbanken seien die Ursache der niedrigen Zinsen. Zwei Ökonomen der Bank of England, Lukasz Rachel und Thomas Smith, weisen in einer Studie ein auf globaler Ebene seit den Achtzigerjahren um 4,5 Prozentpunkte gesunkenes Zinsniveau nach; die Zeit nach 2008 war bloss das letzte Kapitel eines langen Trends. Die Geldpolitik der Nachkrisenjahre allein ist also keine ausreichende Begründung. Etwas Grösseres muss am Werk sein. Aber was?

Die Suche nach dem Gleichgewicht

Simpel betrachtet ist ein Zins ein Preissignal, das die Erwartungen der Marktteilnehmer spiegelt. Als Faustregel hat sich die Gleichung etabliert, wonach die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen die Erwartung an das künftige nominale Wachstum der betreffenden Volkswirtschaft wiedergibt. In den USA wären das derzeit 2%, in Deutschland 0,4%, in der Schweiz bestenfalls null.

Vereinfacht könnte man also ableiten, das aktuelle Zinsniveau spiegle bloss die Erwartung, dass die meisten entwickelten Volkswirtschaften in den kommenden Jahren kaum wachsen werden. Mehrere Gründe, etwa demografische Faktoren und eine evidente Abnahme des Produktivitätsfortschritts, stützen diese These.

Als alleinige Erklärung für das gesunkene Zinsniveau reicht das jedoch nicht. Es ist nicht plausibel, dass das Potenzialwachstum der Wirtschaft auf globaler Ebene in relativ kurzer Zeit 4,5 Prozentpunkte gesunken ist.

Die wahre Erklärung liegt tiefer verborgen, und zwar im neutralen oder Gleichgewichtszins. Diese Bezeichnung, erstmals aufgestellt 1898 vom schwedischen Ökonomen Knut Wicksell, steht für den Zins, der in einer Volkswirtschaft Ersparnisse und Investitionen ins Lot bringt und weder Deflation noch Inflation entstehen lässt. Dieser neutrale Zins ist nicht observierbar, das heisst, es ist nicht möglich, sein Niveau festzustellen.

Die Tatsache, dass die observierten Marktzinsen weltweit ohne nennenswerte deflationäre oder inflationäre Tendenzen signifikant gesunken sind, legt den Schluss nahe, dass das Niveau des Gleichgewichtszinses gesunken ist.

Das ist möglich, wenn die Sparneigung in einer Volkswirtschaft steigt und die Investitionsneigung sinkt. Dann nämlich ist ein niedrigerer Gleichgewichtszins nötig, um den Kapitalmarkt ins Lot zu bringen.

Vieles deutet darauf hin, dass in der Zeit seit den späten Achtzigerjahren genau das geschehen ist. Drei Faktoren haben in vielen Staaten – und kumuliert auf globaler Basis – die Sparneigung steigen lassen: die demografische Entwicklung, wachsende Einkommensungleichheiten innerhalb einzelner Länder sowie ein Mentalitätswandel im Sparverhalten asiatischer Schwellenstaaten.

Zudem haben zwei Faktoren die Investitionsneigung sinken lassen: Die Kapitalintensität der Wirtschaft hat abgenommen, und öffentliche wie auch private Akteure haben Investitionsausgaben gekürzt.

Nachfolgend eine genauere Betrachtung dieser fünf Faktoren. Erstens: die Demografie. Die Altersgruppe mit der höchsten Sparneigung liegt ungefähr zwischen fünfzig und dem Pensionsalter – und in dieses Feld hat sich die Babyboom-Generation in den vergangenen Jahren bewegt.

Eine erhöhte aggregierte Sparneigung ist die logische Folge. Zweitens: die Ungleichheit. In mehreren westlichen Ländern sind die Einkommen der reichsten Bevölkerungsschicht deutlich stärker gestiegen als die der Mittelschicht.

Die obersten Schichten sparen erwiesenermassen einen grösseren Teil ihres Einkommens, und so hat die wachsende Ungleichheit automatisch zu einer höheren aggregierten Sparneigung geführt.

Asiatische Schwellenländer haben, drittens, Lehren aus der Krise von 1997/98 gezogen und seither über das Erwirtschaften von Leistungsbilanzüberschüssen Devisenreserven angehäuft. Auch das bedeutet auf globalwirtschaftlicher Ebene eine gestiegene Sparneigung.

Ähnlich gewichtig waren die Trends auf der Investitionsseite. Mit dem Aufstieg der Informationstechnologie hat die Kapitalintensität der meisten Volkswirtschaften abgenommen. Der Investitionsbetrag für ein Datencenter etwa beträgt heute einen Bruchteil der Summe, die 1997 dafür nötig war.

Unternehmen wie Facebook und Google kommen mit deutlich weniger Investitionskapital aus als die Industrieriesen früherer Epochen. Sowohl Staaten wie auch Unternehmen haben, zweitens, in den vergangenen zwei Jahrzehnten zudem nachweislich ihre Investitionen gedrosselt.

Diese fünf Faktoren haben sich ab den späten Achtzigerjahren zu einer Kraft vereint, die die Sparneigung steigen und die Investitionsneigung sinken liess. Mit dem Resultat, dass der neutrale Zins auf Ebene einzelner Volkswirtschaften wie auch global betrachtet signifikant gesunken ist.

Die stetig lockerere Geldpolitik der Notenbanken war also nicht die Ursache, sondern die Konsequenz dieser Entwicklung: Die Leitzinsen sind dem neutralen Zins in die Tiefe gefolgt.

Permanenter Anlagenotstand?

Bleiben zwei Fragen: Wird das neutrale Zinsniveau nun dauerhaft niedrig bleiben? Und zweitens: Was bedeutet das für die kommenden Jahre?

Von den fünf beschriebenen Trends ist wohl einzig die gesunkene Kapitalintensität der Wirtschaft irreversibel. Die anderen vier könnten theoretisch drehen. Wenn die Babyboom-Generation in Rente geht, wird sich ihre Sparneigung automatisch verändern, denn Pensionierte sparen weniger.

Die Faktoren Einkommensungleichheit, Schwellenländer und staatliche Investitionen beruhen auf politischen Entscheiden: Regierungen könnten beschliessen, hohe Einkommen stärker zu besteuern und Investitionen in die Infrastruktur zu erhöhen.

Ebenso könnten Schwellenländer wählen, weniger Devisenreserven anzuhäufen. Alle diese Entscheide würden die Sparneigung senken, die Investitionsneigung erhöhen und das neutrale Zinsniveau anheben.

Ob es dazu kommt, wissen wir nicht. Es muss jedoch angenommen werden, dass ein beträchtlicher Teil der Absenkung des Gleichgewichtszinses dauerhaft ist. Was wird das für die Zukunft bedeuten? Die erste Konsequenz wäre, dass eine Normalisierung der Geldpolitik die Leitzinsen nicht mehr auf die Niveaus führen wird, die in den Neunziger- und den Nullerjahren als «normal» betrachtet wurden.

Ein niedrigeres Zinsniveau bedeutet, zweitens, dass den Zentralbanken weniger Munition bleibt, um mit konventionellen Mitteln eine Krise oder eine Rezession zu bekämpfen; sie treffen mit ihren Leitzinsen viel rascher als früher auf die Nulllinie. Das bedeutet, dass bislang unorthodoxe Mittel wie QE und Negativzinsen zum Standardrepertoire der Geldpolitik werden.

Die dritte und schwerwiegendste Konsequenz wäre, dass der Anlagenotstand an den Finanzmärkten permanent wird. Das wird die Investoren zu einer ständigen Jagd nach Rendite und zur Inkaufnahme immer höherer Risiken verleiten – und an den Märkten zur Bildung von  Blasen und zu einem instabileren Finanzsystem führen.