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Das Feldstein-Horioka-Paradoxon

Wenn ein Land viel spart, wird auch viel in die heimische Wirtschaft und Gesellschaft investiert.

Wie mobil ist Kapital? Fliesst es wirklich ungehindert zwischen den Ländern hin und her, sodass sich die Renditen einander angleichen, wie es die Theorie lehrt? Oder werden die Ersparnisse eines Landes letztlich im selben Land investiert? Eine Antwort auf diese Frage eröffnet nicht nur neue Erkenntnisse über das Funktionieren des globalen Kapitalmarktes, sondern ist auch entscheidend, um offene Fragestellungen der Wirtschaftspolitik zu lösen, beispielsweise die Suche nach der optimalen Sparquote von Nationen und die Auswirkungen von Steuern. Mit diesen Fragen machten sich vor 35 Jahren der US-Nationalökonom Martin Feldstein und sein 23-jähriger Assistent Charles Horioka an eine empirische Untersuchung, die sich im Laufe der Zeit als eine der am häufigsten zitierten wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten entpuppen sollte.

Feldstein zählte damals zu den bekanntesten Wirtschaftsprofessoren des Landes. Seit seinem Studienabschluss in Harvard Anfang der Sechzigerjahre – natürlich summa cum laude – hatte er bereits weit über hundert wissenschaftliche Artikel verfasst. 1977 wurde er Geschäftsführer des National Bureau of Economic Research (NBER), eines Forschungsnetzwerks für Publikationen, das bis heute die Nummer eins unter den Ökonomieplattformen geblieben ist. In jenem Jahr wandte sich sein Interesse einem neuen Forschungsgegenstand zu: der nationalen Ersparnis. Die USA steckten in einer Rezession, die Geldentwertung bedrohte das Sparkapital. Die Terminbörse in Chicago führte erstmals Futures-Kontrakte auf Staatsanleihen ein, um das Zinsrisiko in den Griff zu bekommen. Zudem wiesen die USA eine der tiefsten Spar- und der höchsten Konsumquoten auf. Konnte das auf lange Frist gutgehen?

In den folgenden zwei Jahren publizierte Feldstein nicht weniger als sechzehn Beiträge zum Thema. Es war nur logisch, dass der Harvard-Professor es auch zum Mittelpunkt seiner «W.A. Mackintosh Lecture» an der Queen’s-Universität in Kingston, Ontario, machte, zu der er im Januar 1979 geladen wurde: «Nationales Sparen und internationale Kapitalflüsse».

Der rätselhafte Koeffizient

Den Ausgangspunkt der damaligen Untersuchung bildet die Überlegung, dass in einer geschlossenen Volkswirtschaft die Summe des Ersparnisse der Summe des investierten Kapitals entsprechen sollte. In einer offenen Volkswirtschaft mit freiem Kapitalverkehr jedoch gilt diese Gleichung nicht mehr. Das Sparkapital kann dann auch im Ausland investiert werden. Feldstein und Horioka überlegten sich also, dass es ausreicht, die Ersparnisse und die Investitionen eines Landes zu messen, um anhand der Differenz zwischen beiden ermitteln zu können, wie offen der Kapitalmarkt tatsächlich ist. Ein  Gradmesser für die internationale Kapitalmobilität also oder ein Vorläufer späterer Globalisierungsindizes.

Die beiden Ökonomen gingen davon aus, dass zwischen den Industrieländern keine Kapitalbeschränkungen mehr bestünden und Investoren frei den rentabelsten Investitionsstandard für ihr Sparkapital auswählen könnten.  Die Untersuchung – sechzehn Länder (ohne die Schweiz) von 1960 bis 1974 – kam indes zu einem unerwarteten Ergebnis: Das meiste in einem Land gesparte Kapital wird auch im selben Land investiert.

Feldstein und Horioka waren als Arbeitshypothese davon ausgegangen, dass im OECD-Raum der Koeffizient zwischen Spar- und Investitionsvolumen rund 0,1 betrage, auf jeden Fall nahe 0 liege. Während das andere Extrem – keine grenzüberschreitenden Investitionsflüsse – einem Koeffizienten von 1 entspräche. Das Ergebnis überraschte alle: Für die sechzehn untersuchten Industriestaaten errechneten die beiden Forscher den Faktor 0,9. Nehmen die nationalen Ersparnisse also um 1 Mrd. $ zu, steigt die Summe der Investitionen vor Ort um 900 Mio. $. Nur 10% der Ursprungssumme fliessen ins Ausland.

Das Fazit der Autoren: Die globalen Kapitalmärkte sind durch zahlreiche Friktionen geprägt. National geschaffene Ersparnis bleibt dem Ursprungsland als Investitionskapital erhalten. Und: Forscher können bei der Berechnung der Einkommensverteilung und der Steuereffekte die Kapitalabwanderung getrost ignorieren.

Kritik und Erklärungen

Die Ökonomenzunft verlieh dem Untersuchungsergebnis rasch das Attribut Paradoxon oder Rätsel. Es mangelte nicht an Kritik. Ökonometriker machten technische Fehler aus. Zum Beispiel wurde bemängelt, dass in der Regressionsrechnung Durchschnittswerte verwendet wurden, statt die Zeitreihen separat zu behandeln. Das verfälsche die Kalkulation. Alternative Berechnungen, die das berücksichtigten, kamen zu tieferen Werten um 0,7. Das Paradoxon indes blieb bestehen. Ökonomen fanden zahlreiche wirtschaftliche und politische Ursachen, um das Feldstein-Horioka-Paradoxon zu erklären. Gänzlich Klarheit brachten auch sie nicht.

Ein Jahrzehnt später rechnete Feldstein, diesmal zusammen mit Philippe Bacchetta, heute Professor in Lausanne, die Studie für 23 Staaten und einen längeren Zeitraum erneut durch. Der Koeffizient fiel über die Jahrzehnte hinweg: von 0,9 in den Sechzigern bis 0,6 für die Periode 1980 bis 1986, als eine Welle der Marktliberalisierung und der Deregulierung die Staaten erfasste. Das Paradoxon, wonach der Wert höher liegt, als in einer globalisierten Wirtschaft anzunehmen wäre, bestätigte sich. Der Disput über das Feldstein-Horioka-Rätsel dauert bis heute an.

«Home Bias gilt heute noch»

Die Väter des Theorems kennen die Für und Wider. Sie haben die Debatten über mehr als drei Jahrzehnte hinweg verfolgt. Angesprochen darauf, welcher Aspekt des Theorems die lange Zeit überlebt hat, verweist Charles Horioka heute auf das Phänomen der Heimmarktneigung (Home Bias). «Der wichtigste Beitrag des Feldstein-Horioka-Paradoxons besteht darin, dass es gezeigt hat, dass trotz Beseitigung der Hindernisse im internationalen Kapitalverkehr und der Globalisierung der Weltwirtschaft Sparer sich weiterhin zu einem überraschend hohen Grad vom Home Bias lenken lassen», erklärt er im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft». «Sie ziehen es vor, das meiste Sparkapital in ihrem eigenen Land zu investieren.»

Zwar habe das Ausmass dieser Neigung, den Heimmarkt zu bevorzugen, im Laufe der Zeit etwas abgenommen. Trotzdem sei das Paradoxon immer noch sehr lebendig. Die internationale Wirtschaftswissenschaft könne daran nicht vorbeigehen. «Theoretische Modelle, die eine perfekte internationale Kapitalmobilität voraussetzen, sind kein realistisches Abbild der Wirklichkeit – auch heute noch nicht», ist der Ökonom, der in Japan lehrt, überzeugt.