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Das Endspiel um den Brexit

Das Einzige, worüber in Sachen Brexit derzeit Klarheit herrscht, ist, dass nichts klar ist. Die Grundsatzansprachen von Premierministerin Theresa May wie auch Oppositionsführer Jeremy Corbyn letzte Woche waren als wegweisende Reden angekündigt worden, die der Debatte einen neuen Rahmen geben sollten. Leider haben sie weder viel Klarheit gebracht noch einen Weg vorwärts gewiesen.

May hat in ihrem Auftritt einen neuen Slogan geprägt: Das ultimative Ziel sei eine neue Zollvereinbarung. Das aber ist nur alter Wein in neuen Schläuchen: Es ist nichts anderes als eine Neuauflage des abgedroschenen Konzepts «Kanada plus», Theresa May kann das noch so oft abstreiten.

«Kanada plus» bedeutet ein Handelsabkommen wie dasjenige zwischen der EU und Kanada, ergänzt um ein paar zusätzliche Klauseln zugunsten der City, der britischen Finanzbranche. Das Abkommen zwischen Kanada und der EU geht in Richtung – wenn auch nicht vollständig – eines freien Güterverkehrs.

Es gewährt Kanada aber lediglich beschränkten Zugang für seine Dienstleistungen. Will eine kanadische Bank Finanzdienstleistungen in der EU anbieten, muss sie eine eigens kapitalisierte Tochtergesellschaft errichten – ein teures Unterfangen – und die EU-Regulierungen einhalten.

Warum sollte Grossbritannien einen besseren Deal bekommen? Gemäss London deshalb, weil die EU in Sachen Finanzdienstleistungen dermassen auf die City angewiesen ist, dass es für Europas Wirtschaft verheerend wäre, die britischen Intermediäre vom Markt auszuschliessen.

Bedauerlicherweise für Theresa May teilen die EU-Verhandlungspartner diese Meinung nicht. Ihrer Ansicht nach würde eine Verlagerung der Eurotransaktionen nach Paris oder Frankfurt der Europäischen Zentralbank (EZB) und anderen Regulierungsbehörden der Eurozone im Gegenteil sogar erlauben, die Finanzmarktrisiken besser zu kontrollieren.

Wettbewerbsfähigkeit und Profitabilität französischer und deutscher Banken würden gestärkt. Schliesslich gibt es keinen Grund, warum sie nicht die gleichen Transaktionen abwickeln können, die jetzt in London gebucht werden.

«Kanada» – ohne das Plus

Ebenso wenig vermögen sich die EU-Vertreter für eine gegenseitige Anerkennung der Finanzmarktregulierung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu erwärmen.

Heute mag man mit dem Vorgehen der britischen Aufsicht einverstanden sein, aber wer garantiert, dass sie auch morgen noch gleichermassen schlagkräftig agiert? Würden sie der gegenseitigen Anerkennung zustimmen, könnten sie dann wenig ausrichten.

Ob Theresa May es also eingesteht oder nicht: In Wahrheit spricht sie über «Kanada» – ohne das Plus.

Vier Tage davor hatte Labour-Parteiführer Jeremy Corbyn in seiner Rede für eine modifizierte Zollunion plädiert, im Unterschied zu Mays Zollvereinbarung. Ihm schwebt ein Arrangement ähnlich dem zwischen Norwegen und der EU vor, in dessen Rahmen das Partnerland für seine Exporte von Gütern und Dienstleistungen freien Zugang zum Einheitsmarkt hat.

In diesem Modell harmonisiert der Partnerstaat im Grunde seine externen Zolltarife mit denen der Europäischen Union. Um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten, wird auch eine Reihe von Punkten betreffend Sozialpolitik und Produktgesetze im Inland harmonisiert, mit Blick auf Beschäftigung, Umweltschutz und Produktsicherheit.

Grenze zwischen Nordirland und Irland vermeiden

Dieses Modell würde den Finanzinstituten des Vereinigten Königreichs Zugang zum EU-Markt sichern und damit die grösste Gefahr für die britische Industrie und Finanzbranche ausräumen. Und so finden wir uns in der sonderbaren Situation wieder, dass der Industrieverband Confederation of British Industry den Vorstoss eines eingefleischten Marxisten unterstützt und Kritik an der Führung der Konservativen übt.

Eine Zollunion würde auch den Bedürfnissen Nordirlands Rechnung tragen. Die Regierung von Theresa May hat zugesichert, eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland zu verhindern. Das ist ein Hauptanliegen der Democratic Unionist Party, auf die May für ihre Regierungsmehrheit angewiesen ist.

Ohnehin ist die Vermeidung einer harten Grenze für jede künftige Regierung in London Pflicht, andernfalls stünde das Good-Friday-Friedensabkommen auf dem Spiel. Und gibt es keine Grenzkontrollen zwischen den beiden Irland, müssen die Zölle auf Importe auf die Insel aus anderen Teilen der Welt harmonisiert werden. Eine Zollunion ist für die Lösung des irischen Problems unabdingbar.

Doch eine klassische Zollunion hat ihre Tücken. Die Teilnahme am Binnenmarkt im Rahmen einer Zollunion setzt voraus, dass die «vier Freiheiten» der EU anerkannt werden. Dazu gehört der freie Personenverkehr, den die Brexit-Befürworter jedoch kategorisch ablehnen.

Man könnte argumentieren, die Personenfreizügigkeit umfasse nur Arbeitskräfte, nicht aber ihre Angehörigen. Doch die Unterscheidung zwischen Arbeitskräften und blossen Familienangehörigen ist nicht immer eindeutig. Den Einwanderungskritikern wird das nicht genügen.

Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz sind anders

Ein anderer Einwand ist, Liechtenstein habe, seiner geringen Grösse wegen, den freien Personenverkehr nicht übernehmen müssen. Doch neben dem tatsächlich kleinen Liechtenstein ist das Vereinigte Königreich ein Koloss. Norwegen – einem Staat von mittlerer Grösse – wurde keine Ausnahme zugestanden, obwohl die Einwanderung pro Kopf dort höher ausfällt als in Grossbritannien.

Zudem muss Norwegen als Bedingung für die Zollunion Zahlungen an die EU leisten. Um das Gesicht zu wahren, richtet es die Zahlungen an einzelne europäische Staaten oder Programme aus und nicht direkt ans EU-Budget, doch mit Blick auf die finanziellen Konsequenzen ist das einerlei.

Die Schweiz mit ihrem beschränkteren EU-Handelsabkommen kennt beide Problemfelder, Personenfreizügigkeit wie auch finanzielle Beiträge, nur zu gut.

Und schliesslich wäre es dem Vereinigten Königreich unter einer Zollunion nicht möglich, mit Drittstaaten Handelsabkommen auszuhandeln oder von der EU abweichende Standards in der Sozialpolitik, den Vorschriften zur Produktsicherheit oder den Finanzmarktregeln aufrechtzuerhalten.

Deshalb schlägt Jeremy Corbyn vor, das Abkommen zwischen der EU und London solle dem Vereinigten Königreich ein Mitspracherecht bei künftigen EU-Handelsabkommen und EU-Regulierungen einräumen.

Ausserdem will er Grossbritannien von den EU-Regelungen betreffend staatliche Hilfen an Unternehmen ausnehmen, um so grosse Teile der britischen Industrie verstaatlichen und unterstützen zu können und gleichzeitig Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten.

Kein Rosinenpicken

Mit diesem angedachten Kompromiss gibt es allerdings ein Problem: Er wird niemals Realität werden. Einer Regierung Corbyn zu erlauben, Finanzhilfen an Unternehmen auszuschütten und gleichzeitig diesen staatlichen Gesellschaften den Export in die EU zu ermöglichen, würde die Wettbewerbsbedingungen für Europas Betriebe im Binnenmarkt massiv verzerren.

Ebenso wenig hat die EU Grund, einem Nichtmitglied das Recht einzuräumen, über ihre Handelsabkommen oder Gütermarktvorschriften mitzubestimmen. Damit würde ein ungeheuerlicher Präzedenzfall geschaffen. EU-Verhandlungsführer haben solche Lösungen bisher stets als «Rosinenpickerei» abgelehnt, Grossbritannien wolle «den Fünfer und das Weggli» haben. Corbyns Vorschlag wäre der Fünfer, das Weggli – und die Rosinen noch dazu.

Wie also weiter? Die Nordirlandproblematik, gepaart mit der Verhandlungs-Machtposition der EU, bedeutet, dass am Ende eine Zollunion resultieren muss.

Dafür wird sich Jeremy Corbyn Richtung politische Mitte bewegen müssen. Er wird sich von den Genossen zur Linken abwenden müssen, die versessen sind auf eine Wiederverstaatlichung weiter Teile der britischen Industrie, ebenso wie von den Kollegen zur Rechten, die Einwanderung und Personenfreizügigkeit feindlich gegenüberstehen.

Theresa May wird ihre «roten Linien» aufgeben und sich von den radikalen Brexiteers distanzieren müssen, die überzeugt sind, nach dem Austritt aus der EU könne das Vereinigte Königreich Zollautonomie wiedererlangen, seine eigene Regulierung durchsetzen und die Einwanderung unterbinden.

Noch zeichnet sich nicht ab, wer von den beiden dieses Minenfeld zu meistern vermag. Zu hoffen ist, dass einer es kann. Denn die Alternative – Austritt aus der EU ohne ein Zollunionsabkommen – wäre das schlimmstmögliche Ergebnis.