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China wird falsch eingeschätzt

Die Regierung von US-Präsident Donald Trump unterschätzt Chinas Widerstandsfähigkeit und strategische Entschlossenheit. Angesichts des Abschwungs der chinesischen Volkswirtschaft sind die USA der Ansicht, dass China in Schwierigkeiten steckt und verzweifelt an einem Ende des Handelskrieges interessiert ist. Doch die chinesische Regierung hat jede Menge politischen Spielraum, um den gegenwärtigen Abschwung zu bekämpfen, und muss daher ihre längerfristige Strategie nicht aufgeben. Zwar scheint sich eine auf den bilateralen Handel ausgerichtete kosmetische Einigung anzudeuten, doch deutet der scharfe Gegensatz zwischen den Rahmendaten beider Volkswirtschaften in der Frage, wer hier die Oberhand hat, auf ein ganz anderes Urteil hin.

Es stimmt, dass sich die chinesische Konjunktur in den vergangenen Monaten deutlich abgeschwächt hat. Doch dies liegt entgegen der Wahrnehmung in Washington nicht am Erfolg der amerikanischen Zollstrategie. Vielmehr ist Chinas Abschwung weitgehend selbst verursacht. Er wurde durch eine Entschuldungskampagne ausgelöst, die darauf zielt, die zunehmenden Risiken eines schuldenintensiven Wirtschaftswachstums zu neutralisieren. Die chinesischen Entscheidungsträger haben zu Recht aggressive Schritte unternommen, um das gefürchtete Japansyndrom – einen Schuldenüberhang in Verbindung mit einer Fülle von «Zombie-Unternehmen» und Produktivitätsherausforderungen – zu vermeiden.

Überwiegend aufgrund dieser Bemühungen hat sich das Kreditwachstum von rund 16% Anfang 2016 auf etwa 10,5% Ende 2018 abgeschwächt. Dies hatte deutliche Auswirkungen auf Chinas einst leistungsstarken Investitionsmotor, die grösste Komponente der Volkswirtschaft, wo sich das Wachstum von 20% Ende 2013 auf rund 6% Ende 2018 abgeschwächt hat.

Hohe politische Flexibilität

Die US-Zölle dagegen beginnen gerade erst zu wirken. Während die Exporte in die USA im Dezember und im Januar im Vergleich zum Vorjahr um etwa 3% gefallen sind, sind die Lieferungen in die übrige Welt weiter gestiegen, was weitgehend auf die Robustheit in den Schwellenmärkten, besonders in Asien, zurückzuführen ist. Soweit vor dem Mond-Neujahr (im Februar) und potenziellen weiteren US-Zollerhöhungen Exporte vorgezogen wurden, ist ein gewisser Rückgang zu erwarten, was die kurzfristigen Aussichten etwas abschwächen könnte. Jedoch lässt sich der Abschwung der vergangenen Monate schwerlich an den Exporten festmachen.

Zur Risikoabsicherung hat China rasch seinen wesentlichen Vorteil ausgespielt: eine deutlich grössere politische Flexibilität, als die westlichen Volkswirtschaften sie aufweisen, die, was fiskal- und geldpolitische Impulse angeht, weitgehend an ihre Grenzen gestossen sind. Die fünfmalige Senkung der Eigenkapitalanforderungen im vergangenen Jahr hat zu einer höheren Kreditvergabe seitens der Banken und einer Erholung des Kreditwachstums Anfang des Jahres geführt, die bis Mitte 2019 einen Anstieg der Wirtschaftsaktivität insgesamt unterstützen dürfte.

Im Gegensatz dazu ist die amerikanische Konjunktur eher durch eine kurzfristige Dynamik geprägt. Dank der überzogenen Steuersenkungen Ende 2017 erhöhte sich das Wirtschaftswachstum 2018 auf ca. 3%; das war fast ein Prozentpunkt mehr als das blutleere Wachstumstempo von 2,2% der vergangenen acht Jahre. Doch der Rückgang fiskalischer Impulse dürfte sich auch im BIP niederschlagen. Die aktuelle Prognose des Congressional Budget Office geht entsprechend für 2019 von einem Anstieg von lediglich 2,3% aus.

Unterschiedliche Sparquoten

Die Gefahr einer sogar noch schwächeren Entwicklung steigt. Die Erholung der US-Aktienkurse Anfang 2019 hat den steilen Rückgang Ende 2018, der dem Vermögen der privaten Haushalte und dem Verbrauchervertrauen einen schweren Tribut abforderte und im Dezember zu einem deutlichen Rückgang des Einzelhandelsumsatzes führte, nicht ausgeglichen. Angesichts der allmählich steigenden Zahl von Arbeitslosenmeldungen, des schon jetzt schwachen Wohnungssektors, der auf zunehmend wackeligen Füssen stehenden Weltwirtschaft und der begrenzten Munition der US-Notenbank sieht es um die Widerstandsfähigkeit der US-Konjunktur zunehmend schlecht bestellt aus.

Die Wahrscheinlichkeit kontrastierender Wachstumsentwicklungen – einer durch politische Massnahmen bedingten Verbesserung in China und eines durch eingeschränkten politischen Handlungsspielraum bedingten Abschwungs in den USA – verstärkt ein schwerwiegendes Missverhältnis bei den längerfristigen Rahmendaten. Chinas nationale Sparquote lag 2018 mit 45% des BIP fast zweieinhalbmal so hoch wie die US-Quote (18,7%). Obwohl Chinas Sparquote von ihrem Höchstwert von 52% im Jahr 2008 gesunken ist, da eine konsumorientierte Neuausrichtung eine Verlagerung von Ersparnisüberschüssen hin zur Aufzehrung von Ersparnissen ausgelöst hat, weist China nach wie vor ein Sicherheitspolster auf, von dem die USA nur träumen können.

Zudem gehen volle 85% von Amerikas Bruttoersparnissen für den Ersatz veralteter und verschlissener Anlagen drauf. Korrigiert um die Abschreibungen wiesen die USA 2018 eine nationale Nettosparquote von lediglich 3% auf. Das ist nicht einmal die Hälfte des Durchschnitts der letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts (6,3%) und liegt sogar noch weiter unter der Netto-Ersparnisposition Chinas, dessen Anlagenbestand deutlich neuer ist und nur geringere Ersetzungen erfordert.

Hohle Vorteile eines kosmetischen Handelsvertrags

Diese Diskrepanzen bei den Ersparnissen unterstreichen einen entscheidenden Unterschied bei den Investitionsgrundlagen des Wachstumspotenzials beider Volkswirtschaften. Chinas Investitionen lagen 2018 auf 44% seines BIP. Das ist mehr als doppelt so hoch wie der Anteil in den USA (21%). Und angesichts von Amerikas veraltendem Anlagenbestand ist die Diskrepanz zwischen den kapazitätssteigernden Nettoinvestitionspositionen beider Volkswirtschaften sogar noch grösser. Dies unterstreicht Chinas relativen Vorteil bei der Finanzierung seiner längerfristigen Wachstumserfordernisse wie der Urbanisierung, der Investitionen in Infrastruktur, Humankapital, Forschung und Entwicklung sowie der Umstellung auf Eigeninnovationen.

Zudem dürfte sich die Kluft bei den Ersparnissen zwischen Amerika und China in den nächsten Jahren noch ausweiten, da anscheinend chronische amerikanische Haushaltsdefizite die nationale Sparquote weiter nach unten drücken werden. Eine zusätzliche Komplikation ist, dass die USA sich zur Finanzierung ihres begrenzten Investitionspotenzials auf gleichermassen chronische Leistungsbilanzdefizite stützen müssen, um ihre niedrigere nationale Sparquote aufzustocken. Natürlich geht mit dem Leistungsbilanzdefizit ein übergrosses multilaterales Handelsdefizit einher – was das schwächste Glied des anstehenden Handelsvertrags unterstreicht: dass sich die USA auf eine bilaterale Lösung mit China stützen, um ein deutlich gravierenderes Defizitproblem mit über hundert Handelspartnern zu lösen.

Letztlich ist wirtschaftliche Stärke relativ. Die aktuelle Stärke der amerikanischen Wirtschaft scheint vorübergehender Art. Ihre kurzfristige Widerstandskraft bröckelt bereits und könnte angesichts besorgniserregender langfristiger Rahmendaten weiter nachlassen. China ist in der gegenteiligen Lage: Seine heutige kurzfristige Schwäche dürfte vor dem Hintergrund relativ solider längerfristiger Rahmendaten bis Mitte des Jahres überwunden sein. Diese Realität wird den US-Verhandlungsführern, die Chinas Stärke und die hohlen Vorteile eines kosmetischen Handelsvertrags falsch einschätzen, ein böses Erwachen bereiten.

Copyright: Project Syndicate.