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Charakterdarsteller sucht Rolle

Die Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Gemeinschaft brechen zusammen, die Regierung in London ist vollkommen durcheinander – das Volk hat in einem Referendum den Austritt aus dem Verbund mit dem Kontinent beschlossen. Hyperinflation und soziale Unruhen erschüttern das Land.

Auf Einladung Whitehalls marschieren amerikanische Streitkräfte ein; das United Kingdom und die United States fusionieren – zu USUK (wie «you suck», Ähnlichkeit beabsichtigt). Der amerikanische Präsident und die Queen sind gemeinsam Staatsoberhäupter.

Die britische Schriftstellerin Daphne du Maurier (1907-1989) veröffentlichte diese satirische Vision 1972, in ihrem letzten Roman «Rule Britannia». Der war nicht erfolgreich, er galt als zu absurd. Vielleicht aber ist die Zeit für eine Neuauflage nun reif.

Zwar ist die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs nach der Brexit-Abstimmung vom 23. Juni 2016 und unmittelbar vor dem ursprünglichen Austrittsdatum – 29. März 2019, 23 Uhr Ortszeit – nicht zusammengebrochen und von Hyperinflation kann keine Rede sein, auch landen an Cornwalls Küsten keine amerikanischen Truppen an; doch in manchem hat die Wirklichkeit die Dystopie eingeholt.

Du Maurier war ihrer Zeit doppelt voraus. Als sie den futuristischen Roman veröffentlichte, war das Vereinigte Königreich nämlich noch gar nicht Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), konnte schlechterdings nicht mit einem Austritt liebäugeln. Doch 1970 hatten die Konservativen unter Edward Heath die Unterhauswahl gewonnen, mit der Zusage, das Land in die EWG zu führen (das war schon 1963, ebenfalls unter den Tories, versucht worden, doch am Veto von Frankreichs Präsident Charles de Gaulle gescheitert).

1973 war es dann soweit. Nur zwei Jahre darauf, Labour war unter Premier Harold Wilson an der Macht, bestätigten die Briten in einem Referendum die Mitgliedschaft, mit 67% Ja; allein in England mit 69%.

Opfer des eigenen Erfolgs

Wilson war ein «Remainer», doch viele weiter links stehende Parteigenossen wollten den Austritt aus der EWG; die Partei war gespalten und fand zu keiner Linie, wie auch heute unter dem aus der Zeit gefallenen Parteichef Jeremy Corbyn. Dagegen waren seinerzeit die oppositionellen Konservativen unter Margaret Thatcher grossmehrheitlich für ein Verbleiben in der EWG.

Als später Thatcher in 10, Downing Street regierte, schaffte just der von ihr entsandte Kommissar Arthur Cockfield in Brüssel von 1984 bis 1988 Dutzende interne Handelshemmnisse ab und entfesselte damit die Dynamik eines schrankenlosen Binnenmarkts.

Der Common Market, für London stets der Wesenskern der EU – nicht schwärmerische Bekenntnisse zu einer immer engeren Union –, wurde ein Erfolg, und das Vereinigte Königreich quasi sein Opfer, weil im realen Brexit-Referendum einer Mehrheit der echte oder vermeintliche Kontrollverlust über die nationalen Geschicke zu weit ging.

Tory-Premier David Cameron, der das Referendum wagte und verlor, warnte seinerzeit, genau wie du Mauriers fiktiver Regierungschef, vor den wirtschaftlichen Schäden – die bis jetzt nicht fatal wirken, doch das bleibt abzuwarten – und vor der Verengung des politischen und militärischen Spielraums im Fall eines Alleingangs. In der Tat könnte die geopolitische Stellung Londons ernsthafter unter dem Abseitsstehen leiden als die ökonomische.

Ein Arrangement für Handel und Wandel über den Ärmelkanal liegt ja vor, das Unterhaus sperrt sich jedoch dagegen. Die Schweiz, eine andere «Insel» im EU-Kontext, hat sich bislang damit durchgewurstelt, am Binnenmarkt weitgehend teilzunehmen und zugleich auf Mitspracherechte zu verzichten, die in ihrem Fall allerdings kaum von Gewicht wären. Dafür bewahrt sie sich einen gewissen Grad an – immer relativer – Souveränität und hütet ihre Kasse.

Für ein kleines Land mag sich eine solch bauernschlaue Passivmitgliedschaft eignen, auch wenn nun, parallel zum Brexit-Prozess,  Schwierigkeiten mit dem von der EU geforderten Rahmenabkommen aufscheinen. Für eine europäische Macht von der Statur des Vereinigten Königreichs verbietet sich dagegen ein «Swiss model». London will, ja muss in Europa ein Wort mitreden. Das ist Staatsräson.

Britische Regierungen sind seit jeher daran interessiert, auf dem Kontinent keinen Hegemon aufkommen zu lassen; entsprechend haben sie immer wieder interveniert. Um 1700 etwa gegen den expansiven französischen König Louis XIV (den der Feldherr John Churchill, Lord Marlborough, in die Grenzen wies), um 1800 gegen den nicht minder gefrässigen Revolutionskaiser Napoleon; im 20. Jahrhundert gegen den Grössenwahn des deutschen Kaiserreichs bzw. dann des «Führers» (dem Winston Churchill, ein Nachfahr Marlboroughs, die Stirn bot).

Winston Churchill war auch der Erste, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Gefahr der sowjetischen Hegemonie benannte. Die «Balance of Power» in Europa ist traditionell der Leitstern britischer Aussenpolitik, wichtiger noch als Kolonien oder Kommerz.

Mit dem endgültigen Friedensschluss zwischen den kontinentalen Hauptmächten Deutschland und Frankreich nach 1945 und der engen Vernetzung der meisten Länder West- und Mitteleuropas hat sich die Notwendigkeit eines militärischen Austarierens erledigt (den eurasischen Nachbarn Sowjetunion bzw. Russland mussten und müssen die Amerikaner in Schach halten).

Dafür hat London bis unlängst EU-intern eine korrigierende Rolle gespielt, indem es einem deutsch-französischen Direktorium im Weg stand, zweifelsfrei zum Segen für ganz Europa. Dieses Duopol droht jetzt. Vielleicht kommt es aber anders – zu deutsch-französischem Zwist.

So oder so, ausserhalb des Spielfelds wird Whitehall den Schiedsrichterpart verlieren. Nach dem Abgang der Briten, wann auch immer, wird überdies das freihändlerische Lager in der EU geschwächt dastehen, auch zum Nachteil des Vereinigten Königreichs.

Isolation wird nicht splendid

Was folgt auf das spröde britische Engagement in der EU? Weltmacht ist passé; im letzten Auftritt, 1956 in der Suezkrise, musste sich London von Washington zurückpfeifen lassen. Kein Zufall, dass wenige Jahre später Premier Harold Macmillan (Tory) in Brüssel vorsprach, erfolglos; de Gaulle war geschichtsbewusst genug, sich sein Patronat über Westdeutschland nicht lockern zu lassen.

Die Freihandelszone Efta, von London 1960 massgeblich angeregt, war neben der EWG schon damals zu klein, heute erst recht. Das Commonwealth wiederum ist keine Alternative, sondern Nostalgie; Indien, Kanada, Australien usf. haben ihre eigenen Interessen.

Die Vorstellung mancher Brexiteers, eine Art Nordsee-Singapur zu errichten, mag vielleicht für Greater London pfiffig sein, doch nicht für Great Britain. Wenn schon, würde daraus eher ein zweites Hongkong. Dieses kann sich der Gravitation Chinas nicht entziehen, so wie auch das Vereinigte Königreich dem Kraftfeld der EU nicht entrinnen wird. Was kein Hymnus auf die EU ist, bewahre; es knirscht im Gebälk, der Euro ist ein Fehlkonstrukt. Doch ihre schiere Masse bedeutet Macht.

Die literarische Lösung «USUK» ist zwar krass überzeichnet, doch nicht ganz ohne Hintergrund. Eine «Special relationship» des Vereinigten Königreichs mit der kolossalen Ex-Kolonie USA gab es zeitweise schon, namentlich in der Waffenbruderschaft im Zweiten Weltkrieg, in jüngerer Zeit – zwielichtiger – im Zweiten Irakkrieg (Bush jun. und Tony Blair). Doch auf eine enge Anlehnung à la USUK wartet in Washington niemand, und falls doch, wäre London bloss der «Sidekick».

Die Isolation wird nicht splendid, selbst falls sie sich wirtschaftlich verkraften lässt. Die Schweiz, zum Vergleich, spielt in der Weltpolitik keine Rolle und ist in Europa nur Statist, das genügt ihr. Das Vereinigte Königreich hingegen wird wanken wie ein alter Charakterdarsteller auf kahler Bühne und vor leeren Rängen.