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Aufgefallen in… London

«Mind the cloooosing doooors, mind the doooors.» Wer schon einmal in London unterwegs war, kennt die Rufe der U-Bahn-Angestellten auf dem Perron, wenn ein Zug abfahrtsbereit ist und die Türen geschlossen werden sollen. Weniger offenkundig ist, dass diese Rufe noch deutlicher in die Länge gezogen und vor allem melodischer werden, je näher die Stosszeit mit dem Pendleransturm rückt.

Um ihn bewältigen zu können, brauchen die Angestellten nicht nur Taktgefühl und eine sonore Stimme, sondern auch äusserst starke Nerven. Wer will sich schon Tausenden von Bürolisten in den Weg stellen, die auf schnellstem Weg nach Hause gelangen möchten. Wobei «schnell» in London relativ ist. Der Arbeitsweg dauert in der Regel zwischen sechzig und neunzig Minuten – sofern alles reibungslos läuft (was selten bis nie der Fall ist).

Inmitten des Gedränges ist es für Pendler schwierig, die Reisezeit mit irgendeiner Beschäftigung zu überbrücken. Äusserst beliebt sind Handy-Games, da sie sich auch im grössten Gedränge mit Kopfhörer spielen lassen. Einige Pendler lassen es sich nicht nehmen, Kreuzworträtsel und Sudokus zu lösen. Andere wiederum – zumindest diejenigen, die einen Sitzplatz ergattern konnten –, verstecken sich hinter einer Gratiszeitung oder informieren sich im Ausgehmagazin «Time Out» über das Wochenende.

Immer wieder entstehen neue, in der Regel nichts kostende Angebote, die einem das Pendlerleben so angenehm und kurzweilig wie möglich gestalten sollen. Seit Anfang April steht bei der U-Bahn-Station des Finanzdistrikts Canary Wharf eine Maschine, die Kurzgeschichten ausspuckt. Pendler haben die Wahl zwischen ein-, drei- und fünfminütiger Lesezeit. Es handelt sich um Zusammenfassungen von Stücken aus der Weltliteratur, von Autoren wie Charles Dickens oder Virginia Woolf. Das Angebot dieser Gratis-Kurzlektüren ist nicht neu, es gibt sie unter anderem bereits in den USA, Hongkong und Frankreich.

Aber auch in London lassen sich die Bankerinnen und Banker vom neuen Angebot anziehen, wie ein Besuch vor Ort zeigt. Immer wieder drucken Pendler solche «Short Stories» aus, bevor sie mit der U-Bahn in den dunklen Untergrund der Stadt eintauchen.

Deutlich etablierter ist ein Angebot von Transport for London (TfL), der Dachorganisation, die für den Betrieb der U-Bahn-Linien sowie der meisten übrigen innerstädtischen Verkehrsmittel zuständig ist. An zahlreichen Stationen steht ein Flipboard, auf dem die Angestellten ihren «Thought of the Day» (Gedanken des Tages) aufschreiben können. Immer wieder mal humoristisch geprägt, zwischendurch aber auch mal philosophisch angehaucht.

Ein Beispiel gefällig? Jüngst hingen bei der U-Bahn-Station, das sich unweit des Londoner Büros der «Finanz und Wirtschaft» befindet, folgende Sätze: «Hast Du wirklich das Gefühl, dass Du arbeitest? Setz Dich für einen Moment und warte. Du wirst sehen, dass das Gefühl schnell verschwindet.» Es sind diese subtilen Bemerkungen, die auf den ersten Blick oberflächlich scheinen – einen aber doch nicht loslassen, bis man ihre tiefere Bedeutung entdeckt.

Erstmals tauchten diese Gedanken des Tages in London vor vierzehn Jahren auf. Anthony Gentles, ein Kundenberater in der U-Bahn-Station Oval, die nach dem bekannten Londoner Cricket-Stadion benannt ist, wollte die gestressten Gesichter der Pendler mit Lebensweisheiten aus seinem Lieblingsbuch «Tao Te Ching», einer der wichtigsten Schriften aus dem Taoismus, aufheitern.

Das Experiment von Gentles mit seinen Weisheiten hatte durchschlagenden Erfolg. Heute finden sich fast täglich Zitate, Gedanken und Anregungen an zahlreichen U-Bahn-Stationen quer durch die Stadt. Oder um es in den Worten von Anne Frank zu sagen (auch sie waren schon mal auf dem Flipboard zu finden): «Wer auch immer glücklich ist, wird andere glücklich machen.»